Wir haben alle mal klein angefangen. Rainer Bartelt
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Und Dummheit wird bestraft: Zu ihrem eigenen Bedauern wissen nicht alle armen Sünder, die von der Polizei erwischt werden, sich so elegant aus der Affäre zu ziehen wie die verschworenen vier Musketiere, Entschuldigung: Göttinger Studenten. Diese Erfahrung machte ich in einem Gerichtsprozess, dem ich etwa zur gleichen Zeit beiwohnen durfte, als die dreisten Vier in Göttingen vom Gericht freigesprochen wurden.
Der Prozess, an dem ich nur als einfacher Zuhörer teilnahm, fand vor einem schleswig-holsteinischen Amtsgericht statt und wurde von dem leitenden Amtsrichter höchstpersönlich durchgeführt. Immerhin ging es um eine einigermaßen knifflige Angelegenheit, bei der der Ausgang vollkommen ungewiss war:
Der Angeklagte war ein Bauarbeiter, wie er im Buche stand. Während seiner schweißtreibenden Arbeit trank er regelmäßig Bier in rauen Mengen und fuhr deshalb meist auch mit total besoffenem Kopf nachhause. Normalerweise klappte das ganz gut, noch nie hatte ihn eine Polizeistreife angehalten und ins Röhrchen pusten lassen, bis er eines schönen Tages in einer scharfen Kurve sein Auto statt nach links um die Ecke einfach stur geradeaus weiterrollen ließ.
Dummerweise stand ihm dabei ein Haus im Wege. Ohne zu Bremsen fuhr er durch den kleinen Vorgarten, durchbrach die Außenmauer des Wohnhauses und parkte sein Auto mitten im Schlafzimmer. Da das Ganze tagsüber geschah, kam außer dem Auto, der Hauswand, einem französischen Doppelbett und einigen anderen Möbeln glücklicherweise niemand ernsthaft zu Schaden. Auch der Unglücksfahrer selbst – unser dem Teufel Alkohol besonders liebevoll zugetaner Mann vom Bau – trug kaum Blessuren davon, denn Betrunkene haben bekanntermaßen mehr als einen Schutzengel. (Nämlich mindestens zwei an der Zahl, weil Betrunkene bekanntermaßen alles doppelt sehen!)
Trotz seines nicht unerheblichen Alkoholpegels war unserem forschen Bruchpiloten sofort klar, dass dieses nicht gerade als klein anzusehende Malheur für ihn doch die eine oder andere unangenehme Konsequenz nach sich ziehen könnte. Den Verlust des Führerscheins zum Beispiel. Wie sollte er zur Arbeit kommen, ohne Auto fahren zu dürfen? Um diese und andere Unannehmlichkeiten zu vermeiden, kletterte er schnell aus dem Autowrack, stieg über die Trümmer der Schlafzimmerwand ins Freie, wischte sich den von der Decke gefallenen Mörtel aus den Haaren und von den Schultern und machte sich vor Schreck, Alkohol und Benommenheit leicht schwankend davon.
Schlauerweise schlug er nicht den Weg in Richtung seiner heimatlichen Wohnung ein, denn dort hätte ihn die Polizei wohl am ersten gesucht. Stattdessen stolperte er so gut es ging über Stock und Stein quer über die eine oder andere bügelbrett-flache Wiese seiner norddeutschen Heimat, bis er auf ein Wirtshaus stieß, das ihm gemütlich genug erschien, um es dort bis zum nächsten Morgen auszuhalten. Währenddessen wartete seine Frau zuhause mit dem Abendessen auf ihn und wunderte sich, wo ihr Mann bloß blieb.
Im Saufen hatte „Quax“, unser vom rechten Weg abgekommener Bruchpilot, große Erfahrung, und so war es für ihn keine besondere Herausforderung, seinen ehrlich erworbenen Alkoholpegel über die kurze Nacht bis in den anderen Tag hinein zu retten. Nach anfangs vergeblicher Suche bei Freunden und Bekannten fand ihn die Polizei schließlich am anderen Mittag am Tresen einer vom Unfallort einige Kilometer entfernten Gaststätte in einem immer noch stark angeheiterten Zustand.
Ich war stocknüchtern, Herr Richter!
Als ich unseren Unglücksfahrer schließlich im provinziell-gemütlichen Dithmarscher Amtsgericht zu Meldorf in voller Schönheit und furztrocken bewundern konnte, stand er als überhaupt nicht reuiger Sünder kerzengerade und mit hoch erhobenem Haupt vor dem Richtertisch:
„Bitte glauben Sie mir, Herr Richter, ich war stocknüchtern, als ich in das Haus gefahren bin. Ich hatte nur für einen kurzen Moment die Kontrolle über mein Fahrzeug verloren. Warum, das kann ich mir heute überhaupt nicht mehr zusammenreimen. Vielleicht war’s ein technischer Defekt am Auto? An der Lenkung vielleicht? Ich weiß es wirklich nicht!“
„Ja guter Mann, wie kommt es denn, dass man Sie am Tag danach mit fast 2,5 Promille in dieser Kneipe aufgegriffen hat? Und warum haben Sie überhaupt Fahrerflucht begangen? Das erklären Sie diesem Gericht doch bitte mal!“
„Aber Herr Richter, das war so: Als ich in das Haus gekracht bin, habe ich einfach den Kopf verloren. Ich hatte einen Schock und wusste nicht, was ich tun sollte. Da bin ich einfach weggerannt.“
„Und weil Sie so erschrocken waren, haben Sie sich dann in die nächste Kneipe gesetzt, um sich dort ein Glas nach dem anderen hinter die Binde zu kippen und sich sinnlos zu besaufen?“
„Ja Herr Richter, genauso war es – ich schwöre!“
„Herr Rechtsanwalt, was sagen Sie denn zu den Aussagen Ihres Mandanten?“
Der Richter wandte sich direkt an den Pflichtverteidiger des Angeklagten, der daraufhin aufsprang und folgendes zum Besten gab:
„Also Herr Richter, wissen Sie, ich habe zu meinen Mandanten bisher auch noch nicht das richtige Vertrauensverhältnis aufbauen können…“
Spätestens jetzt lag sonnenklar zu Tage, dass dem Angeklagten im Gerichtssaal niemand auch nur ein Wort glaubte – nicht einmal sein eigener Verteidiger. Für den Angeklagten sah es also gar nicht gut aus.
Obwohl: Wer sollte ihm beweisen, dass seine Geschichte von vorn bis hinten erstunken und erlogen war? Zeugen gab es nicht, eine beweisfähige Blutprobe vom Tatzeitpunkt auch nicht. Eigentlich war der Angeklagte so gut wie aus dem Schneider. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – auf diesen Rechtsgrundsatz konnte er sich jederzeit berufen, denn es gab keinen Tatzeugen und auch sonst keinen stichhaltigen Beweis dafür, dass er wirklich betrunken am Steuer gesessen hatte, als der Unfall passiert war.
Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen...
Obwohl von der Sache her vollkommen unbeteiligt, war ich aufs Äußerste gespannt, wie sich dieser offene Wettstreit zwischen Richter und Angeklagtem entwickeln würde: Was würde der erlauchte Amtsgerichtsdirektor, in Sachen verstockter Delinquenten mit allen Wassern gewaschen, wohl unternehmen, um diesen „gordischen Knoten“ in der Beweisführung zu entwirren? Würde er die Verhandlung abbrechen, um eine erneute, noch genauere Detail-Untersuchung anzuordnen? Des Tatorts oder des Unfallfahrzeugs zum Beispiel, um eventuell doch noch Spuren und Hinweise auf den vermuteten Alkoholkonsum vor der Tat zu finden? Um durch hieb- und stichfeste Indizien und Beweise den Angeklagten am Ende doch noch einer Lüge zu überführen?
Nichts dergleichen! Die Methode, die der Richter anwandte, um den Angeklagten, der wie ein Uhrwerk immer dieselbe Geschichte wiederholte, zur Strecke zu bringen, war ebenso simpel wie effektiv: Er stellte dem Angeklagten mit unbeirrter Beharrlichkeit immer wieder dieselben Fragen zum Tathergang und ließ ihn seine Geschichte wieder und wieder erzählen. Und jedes Mal, wenn der Angeklagte mit seinen Ausführungen fertig war, schaute der Richter mit gespielter Verachtung von oben, von seinem leicht erhöhten Richtertisch auf den Angeklagten herab und sagte im vollen Brustton der Überzeugung:
„Das glaubt Ihnen doch kein Mensch: Diese Geschichte können Sie vielleicht Ihrer Großmutter erzählen, aber nicht diesem Gericht hier! Denken Sie sich doch bitte mal etwas Überzeugenderes aus. So kommen wir hier nie zu einem guten Ende!“
„Nein, Herr Richter, ich schwöre, genauso war es, ich sage die volle