Wir haben alle mal klein angefangen. Rainer Bartelt
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Und dann kam eine zweite Geschichte, die noch unglaublicher anzuhören war als die erste.
Das war’s mit „im Zweifel für den Angeklagten”: Trotz fehlender Beweise wurde unser wackerer, zu seinem eigenen Unglück leider mehr als ihm gut tat dem Alkohol verfallener Handwerksmann der grob fahrlässigen Verkehrsgefährdung in Tateinheit mit schwerer Sachbeschädigung schuldig gesprochen.
Die für Verkehrsdelikte zuständige Haftpflichtversicherung des Unfallfahrers, deren Vertreter zu den wenigen Zuhörern in dem großen, fast leeren Gerichtssaal gehörte, hatte damit die gewünschte Handhabe, sich den gesamten Schadensersatz für das beschädigte Haus vom Angeklagten zurückzuholen. Auto futsch, Geld futsch, und seinen Job beim Bau war der arme Wurm sogar schon vor dem Gerichtstermin los gewesen: Wer beschäftigt auf dem weiten, platten Land wohl jemanden, der kein Auto hat, mit dem er zu ständig wechselnden Baustellen fahren kann?
Armer Sünder, dachte ich mir, diesen Strick hast du dir ganz allein selbst um den Hals gelegt! Und für mich selbst zog ich aus dieser missglückten Selbstverteidigung den guten Vorsatz, zukünftig noch mehr als bisher an meiner eigenen Rhetorik feilen zu wollen. Nach diesem Prozess war mir sonnenklar, vor Gericht hat nur der gute Karten, der „coole“ Argumente und einen noch cooleren – Entschuldigung –, einen noch kühleren Kopf hat.
Vor allen Dingen: Jeder Depp und jeder Richter weiß, dass es nur eine einzige Wahrheit, dafür aber umso mehr Unwahrheiten gibt. Wer also für sich selbst beschlossen hat, den Rest der Welt mit Lügenmärchen zu beglücken, der sollte immer daran denken: Sagt man zuerst A und dann B, braucht man sich nicht darüber zu wundern, wenn einem hinterher keiner mehr glaubt. Also bitte schön bei der Stange bleiben – ganz besonders vor Gericht –, und immer schön „A” sagen, auch wenn’s einem keiner glaubt. Sollen alle anderen doch erst einmal hergehen und dir das Gegenteil beweisen!
Fünf Mark für’s Falschparken
Diesen guten Grundsatz zur Rechtfertigung aller krummen Touren in unserer ach so unperfekten Welt beherzigten zwei befreundete Jurastudenten, die für falsches Parken am Ende sogar noch Geld vom Staat bekamen. Man lernt aus diesem schönen Beispiel, dass von allen wichtigen und gesellschaftlich wertvollen Berufen, die der liebe Gott so erfunden hat, eine fundierte juristische Ausbildung noch immer das beste Hilfsmittel ist, um ein krummes Ding zum Erfolg zu führen.
Dabei fing die Geschichte mit meinem Schulfreund „Carlo“ und seinem Freund Jens eigentlich ganz harmlos an:
Einer der beiden – nämlich Carlo, auch „Karlchen“ genannt, der wahre Name soll hier lieber verschwiegen werden, denn heute ist Karlchen selbst ein ehrenwerter Rechtsanwalt und Notar und möchte ganz bestimmt nicht mit einem Dummejungenstreich wie diesem in Verbindung gebracht werden – fuhr zu einem hochwichtigen Bundesliga-Handballspiel seines Heimvereins THW Kiel. Da alle Parkplätze vor der großen Sporthalle entweder schon belegt waren oder Geld kosten sollten, stellte er sein Auto einfach unmittelbar vor den Halleneingang und damit ins Parkverbot. Es kam, wie es kommen musste: Als das Spiel vorbei war, steckte ein Knöllchen hinter einem der beiden Scheibenwischer. Einen ganzen „Heiermann“ (fünf Mark) sollte Carlo für falsches Parken an Vater Staat berappen. (Man sieht, die Geschichte spielt noch zu antiken, aber seligen D-Mark-Zeiten!)
Jeder normale Mensch hätte sich kurz geärgert, das Bußgeld überwiesen und die ganze Sache dann sofort ad Acta gelegt. Doch mein guter Freund Carlo war nun einmal ein hoffnungsvoller angehender Jurist. Also suchte er nach einem Ausweg – und fand einen.
Er tat deshalb erst einmal gar nichts und ließ die Zeit verstreichen, bis ihm vom Gericht per Post eine Vorladung zugestellt wurde. Zwanzig Minuten waren für die Verhandlung seiner Ordnungswidrigkeit angesetzt worden. In Begleitung eines Freundes und mit einem Stapel Akten unter dem Arm betrat Carlo den Gerichtssaal. Nachdem seine Personalien festgestellt waren, fragte der Richter:
„Warum haben Sie die Geldstrafe nicht gezahlt?”
Darauf Carlo: „Weil ich unschuldig bin!”
„Aber Sie sind doch der Halter des Fahrzeugs KI-TT 257?”
„Ja, der bin ich!”
„Aber dann ist die Sache doch sonnenklar: Sie müssen die Strafe bezahlen!”
„Nein, nein, Herr Richter, ich möchte gern einen Zeugen aufrufen!”
„Warum das denn, was wollen Sie damit bezwecken? Denken Sie, Sie sind hier bei einem Schwurgericht!?”
„Nein, Herr Richter, ich möchte nur meine Unschuld beweisen.”
„Ihre Unschuld!?”
„Ja, Herr Richter, das ist mein gutes Recht!”
Carlo kramte in seinen Akten, fand, was er suchte, und hielt ein bedrucktes Blatt Papier in die Höhe:
„Dieses höchstrichterliche Urteil vom 27. März 1957 mit dem Aktenzeichen...”
„Also gut, also gut, Sie haben ja Recht! Der Zeuge, den Sie benennen wollen, ist wohl Ihr unbekannter Begleiter dort?”
„Ja Herr Richter, das ist mein Freund Jens. Jens möchte eine Aussage zur Sache machen.”
Auch wenn sich die Verhandlung dadurch aus Sicht des Richters vollkommen unnötig in die Länge zog, blieb ihm nach geltendem Recht nichts anderes übrig, als meinem Freund Karlchen zu Willen zu sein. Nachdem Jens’ Personalien in den Gerichtsakten notiert worden waren, durfte er als Zeuge „zur Sache“ aussagen:
„Ich bin gefahren, Herr Richter!”
„Was, wie denn das?” Der Richter war echt verblüfft.
„Ich hatte mir das Auto von Carlo geliehen, weil ich mir das Handballspiel des THW Kiel ansehen wollte. Als ich das Auto vor der Sporthalle abgestellt habe, muss ich wohl das Parkverbotsschild übersehen haben.”
Langsam dämmerte dem Richter, was hier abgehen sollte: „Also gut”, sagte er und schloss mit Schwung den Deckel seiner Akten, „dann beende ich mit dieser Zeugenaussage, die den Angeklagten entlastet, die Verhandlung, das Verfahren wird eingestellt.”
Doch er hatte nicht mit meinem Freund Carlo gerechnet: „Einspruch, Herr Richter: Ich möchte, dass das Verfahren ordnungsgemäß zu Ende geführt wird. Mein tadelloser Leumund ist beschmutzt, ich fordere hiermit für mich einen formellen Freispruch!”
Statt der geplanten zwanzig Minuten dauerte das Verfahren am Ende zwei volle Stunden. Trotz ständigem heftigen Kopfnickens von Jens Seite, kostete es Carlo noch einige Mühe, den Richter durch Hinweise auf ähnlich gelagerte Präzedenzfälle dazu zu bewegen, diesen Pillepalle-Prozess um eine banale Ordnungswidrigkeit wie gewünscht formal korrekt zu Ende zu führen. Doch Ende gut, alles gut: Zum guten Schluss gab es für Carlo den gewünschten Freispruch erster Klasse, und für den angeblichen Parksünder Jens sogar noch fünf Mark Zeugengeld aus der Staatskasse oben drauf.
Das Ergebnis dieses Sensationsprozesses: Nach den Gerichtsakten war Jens der gesuchte und überführte Übeltäter und bekam dafür sogar noch ein finanzielles Handgeld aus der Staatskasse!
Allerdings hätte Jens, dem voll geständigen Parksünder sofort nach der Verhandlung