Blaues Feuer. Thomas Hoffmann
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Norbert wollte nur essen und schlafen. Aber seine Angst, lange Erklärungen abgeben zu müssen, war unbegründet.
Mitten in das Durcheinander der auf Norbert einstürmenden Fragen polterte der Vater los: „Die heiligen Brüder haben über ihm gebetet. Mit der Geisterschwärmerei ist es vorbei, ein für alle Mal! Ich will kein Gerede über Geister mehr hören, hier nicht und nirgendwo. Ich schlag ihn grün und blau, wenn mir nochmal was von Geistern zu Ohren kommt!“
Das Stimmengewirr verstummte. Sigurt hielt ihren Sohn umklammert, als wollte der Vater ihn gleich schon mal vorbeugend verprügeln. Hans Lederer blickte grimmig nach Leika, doch sie hielt seinem Blick stand und schaute fest zurück. Die Haltung des Vaters lockerte sich etwas. Die Hofgemeinschaft ging zögernd zurück an den Tisch. Mutter und Lene stellten Schalen und Becher für den Vater und Norbert hin. In einem ungesehenen Moment warf Lene Norbert einen verschwörerischen Blick zu. Er wusste, was sie meinte.
„Petra war die ganze Zeit bei mir,“ flüsterte er.
Lene strahlte vor Stolz. Norbert machte sich über die heiße Grütze her.
Nachdem der Vater ein paar Bissen Rauchfleisch gekaut hatte, schlug er einen versöhnlichen Ton an.
„Ich habe Wachskerzen, Kleiderstoff, Leinen, Messer und zwei neue Äxte mitgebracht.“
Aber von dem Geld, das er im „frommen Pilger“ ausgegeben hatte, sagte er nichts. Norbert schaute die Mutter an. Die schmale, verhärmte Frau blickte ängstlich von ihren Teller auf zu ihrem Mann. Und mit einem Mal wusste Norbert, warum Vater nie von seinen Marktreisen erzählte und warum niemand in der Hofgemeinschaft ihn danach fragte, was er auf seinen Reisen erlebte.
***
In der Hofgemeinschaft wurde nicht mehr über die Marktreise gesprochen. Hans Lederers Schweigen wirkte wie ein Verbot, Norbert Fragen zu stellen. Wie selbstverständlich ging das alltägliche Leben auf dem Hof weiter, wenn auch die Mutter Norbert am nächsten Morgen eine Extraportion Speck und Bohnen in die Frühstücksschale gab und Margit und Oliver ihm neugierige Blicke zuwarfen. Lene, die neben ihm saß, betrachtete ihren Bruder verstohlen.
Nach dem Frühstück ließen Norbert und Lene die Ziegen aus dem Stall. Lene hielt Norbert in der Stalltür fest und zerrte ihn hinter den Stall.
„Was ist geschehen auf der Reise?“ flüsterte sie atemlos.
Die beiden Kinder kauerten sich unter das niedrige Strohdach.
„Vater hat eine Freundin in Altenweil,“ erklärte Norbert.
Lene sah aus, als wollte sie ihn ausschimpfen, aber sie überlegte es sich anders.
„Eine Freundin?“
„Ja, zwei Nächte ist er bei ihr gewesen und abends haben sie in der Wirtsstube gesessen und geschmust. Und dem dicken Wirt, bei dem sie Waschfrau ist, hat er die Hälfte seines ganzen Geldes gegeben und nur für die andere Hälfte Sachen auf dem Markt eingekauft.“
Lene blickte Norbert zweifelnd an.
„Ist das auch wahr?“
„Natürlich ist es wahr!“
„Und das Kloster? Gibt‘s die Zauberbilder, die Ikonen wirklich?“
„Ich musste mich vor einen Kasten knien, der auf einem Steintisch stand. Dann haben sie den Kasten aufgemacht. Da war ein Bild drin von einem Mädchen, das ein Rehkitz auf dem Schoß hatte. Aber sie mochte das Kitz nicht und guckte ganz sauer.“
„Und dann?“
„Nichts. Sie haben noch Geld genommen von Vater, damit ich das Bild sehen durfte.“
In Lenes Gesicht arbeitete es. Sie knetete ihre Finger, brachte die Frage aber nicht heraus. Norbert kannte seine Schwester gut genug, um zu erraten, worum es ging. Er holte Petra aus seiner Hosentasche.
„Hier, dein Püppchen. Und danke noch mal.“
Lene sah ihn ganz seltsam an.
„Hat sie dir geholfen?“
„Ja.“ Er sagte es sehr leise.
„Weißt du, du kannst sie behalten, wenn du willst.“
Und mit einem Blick auf ihren Bruder und das Holzpüppchen in seinen Händen fügte sie hinzu: „Ich glaube, Petra möchte bei dir sein.“
Norbert hielt das Figürchen in beiden Händen vor sein Gesicht.
Klar bleib ich bei dir, sagte Petra.
„Ja,“ murmelte Norbert. „Danke, Lene.“
Vor lauter Verlegenheit vergaß er, ihr zu sagen, dass es Petra überhaupt nicht gekümmert hatte, wenn er Rotz hochziehen musste.
***
Am Abend trafen die Wildenbrucher Kinder sich am Waldrand am gegenüberliegenden Ende der Weidewiese. Die Wiese und das Dorf lagen im Schatten. Über den bewaldeten Felsen glühte der Himmel in sanftem Rot. Unten auf dem Fluss funkelten letzte Sonnenstrahlen.
Maja setzte sich neben Norbert ins Gras. Die Kinder blickten Norbert gespannt und ein wenig scheu an. Lene reckte stolz den Hals und blickte triumphierend in die Runde, als wäre sie es gewesen, die die Marktreise gemacht hätte.
„Und?“ wollte Roderig wissen. „Haben sie dich geheilt? Kannst du keine Geister mehr sehen?“
„Doch, kann ich, es ist ja keine Krankheit. Leika sagt, es ist eine Gabe. Und der Abenteurer in Köhlershofen hat es auch gesagt. Im Kloster heilen sie nur Krankheiten.“
„Petra, mein Püppchen, das ich ihm gegeben habe, hat ihm geholfen!“ jubelte Lene.
Alle bestürmten Norbert mit Fragen, alles sollte er erzählen, aber Roderig winkte forsch ab.
„Woher weißt du, dass du es noch kannst?“
Norbert spürte einen Stich in der Brust. „Da... da war ein Mädchen am Brunnen in Köhlershofen. Sie ist vor vielen Jahren in den Brunnen gefallen...“
„Und?“ Roderig kniff die Augen zusammen.
Norberts Stimme war belegt. „Ich hab sie am Brunnen stehen gesehen. Sie hat nach mir gerufen...“
„Bist du hingegangen?“
Norbert schüttelte den Kopf. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhärchen aufrichteten, wenn er an das Heulen der Wölfin dachte. Und konnte er sie nicht eben jetzt in der Dämmerung hören – drüben in den Schatten der nebelumflossenen Elbenruinen? Töne drangen an sein Ohr, fern und sehr leise.
„Erzähl uns von Altenweil!“
Die Stimmen der Gefährten rissen ihn aus seiner Trance. Norbert erzählte.
„Die Stadt hat eine hohe, dicke Mauer aus Stein und die Häuser stehen ganz eng beieinander, so dass man kaum dazwischen hindurch kommt. Sie sind