Vorm Mast. Wolfgang Bendick
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HEJ GEIT
Unser Ausbildungsoffizier, Herr Herk, ist eingetroffen und mustert uns skeptisch. Er ist noch ziemlich jung, trägt Bürstenschnitt. Er war vorher bei der Hamburg-Süd. Warum ist er da nicht geblieben? Die bordeigene Gerüchteküche (er)findet für alles eine Antwort. Die Besatzung ist jetzt vollständig. Die Mindestbesatzung für ein Schiff auf großer Fahrt, wie das unsere, ist 37 Personen. Damit sind alle Posten ausreichend besetzt. Dazu der Ausbildungsoffizier und 6 Kadetten, das macht 44. Dann endlich: „10 Uhr Auslaufen, bei ablaufend Wasser!“ Da Hamburg Tidehafen (Gezeitenhafen) ist, nutzen die Schiffe die Strömung, um schneller vorwärts zu kommen oder um die größere Wassertiefe auszunutzen. Schon am Vortag war es auf einer Tafel neben der Gangway angeschrieben gewesen, für die Landgänger. Die Deckswache hatte in der Früh in der Backbordrah die Flagge P gesetzt, den blauen Peter, wie man ihn nennt (blaue Flagge mit weißem Quadrat in der Mitte). Das ist nicht der Mann von der grünen Minna und hat auch nicht viel mit dem Zustand der noch fehlenden Matrosen zu tun, sondern bedeutet, dass das Schiff noch heute auslaufen wird. Ein Pfiff aus der Trillerpfeife schallt übers Deck. „Klar vörn un achtern!“, ruft ein Offizier. Wir alle begeben uns auf unsere Stationen, für die wir eingeteilt waren. Ich bin froh, für achtern eingeteilt zu sein, da fühle ich mich schon vertraut. Wir wohnen ja dort...
Der Hafenlotse kommt an Bord in frisch polierter Uniform. Lotsen haben es immer wichtig! Fast wie unser Chef in der Kombüse... Man schaute sich an. Fragt: „Hast du den und den gesehen? Bist du sicher, dass er an Bord ist?“ Es wäre blöd, jetzt „achteraus zu segeln“, hier schon das Schiff zu verpassen, ist das doch ein Grund für einen Rausschmiss. Passiert das im Ausland, muss der Betreffende den Flug für den Ersatzmann bezahlen. Ist die Mannschaft nicht vollständig, kann das Schiff am Auslaufen gehindert werden. Dann fallen zusätzliche Liegegebühren an. Das kann ein teures letztes Glas werden... Die Gangway wird eingeklappt. Die 2 Schlepper sind da. Fast unbemerkt sind sie herangeglitten und lauern auf der Wasserseite, wie sprungbereit. „Schlepperleinen raus!“, bellt die Wechselsprechanlage. „Schlepperleine raus!“, wiederholt der Zweite. „Schlepperleine an Heckklüse ausstecken!“, gibt er an uns weiter. Lederbehandschuhte Hände lassen die schon vorbereitete Trosse hinab, ein paar Buchten laufend (gleitend) um einen Poller gelegt. Die Schlepperbesatzung nimmt mit einem Bootshaken das Auge in Empfang und schleppt es zum gut gefetteten Haken, wo sie es einhängt. Der Matrose an Deck fiert aus. Mit gekreuzten erhobenen Armen gibt einer der Schlepperleute das Zeichen, dass die Länge stimmt. Der Matrose belegt mit mehreren Schlägen. „Achtern Schlepper fest“ meldet der Scheich in den Lautsprecher zur Brücke. Wahrscheinlich lief es auf der Back, dem Vorschiff, genauso. „Spring los!“, ist die nächste Order. „Heckleinen leicht fieren“, „Heckleinen los.“ Wir rennen dorthin, wo wir denken, gebraucht zu werden. Oft heißt es nur: „Aus den Kinken!“, oder man schubst uns weg: „Siehst du nicht, wo du stehst?“, „Warum fasst du nicht an? Du siehst doch, was anliegt!“ Die triefenden Festmacher kommen an Bord. Anfangs versuchen wir, sie gleich wegzuschießen. Doch alles geht zu schnell. Als die letzte losgeworfene Leine ins Wasser klatscht, steigt es in mir heiß auf. „Leinen eingeholt, Schraube frei!“, meldet der Offizier. Das war's! Jetzt geht’s los.
Kurz darauf pufft der Schornstein, das Schiff zittert, die Schraube peitscht kurz das Wasser. Dieses strömt in Strudeln gegen die Kaimauer, vermischt die dort schwimmende Ölschicht mit dem Treibgut und anderen über Bord geworfenen Abfällen. Die Schleppleine spannt sich, der Abstand zwischen Kaimauer und Schiff vergrößert sich. An der Pier öffnet sich eine große Lücke zwischen den anderen Schiffen, da wo wir gerade noch gelegen sind. Die Schraube fängt wieder an zu drehen, diesmal etwas schneller, der Schlepper bleibt an der Trosse und folgt uns im Rückwärtsgang. Ab und zu spannt sich die Leine und er korrigiert unsern Kurs.
Jetzt können wir alle etwas verschnaufen. Selbst die erfahrenen Matrosen, der Scheich, selbst der Zweite Offizier stehen da, die Hände auf der Reling, den Blick auf die im Hafenbecken zurückbleibenden Schiffe gerichtet. Wie sehen Hamburgs Wahrzeichen, den Michel, mit seiner grünen Mütze vorbeiziehen, die blaue Überseebrücke (das Kriegsschiff ist nicht mehr da). Und keiner motzt uns an. Ich erlebe einen heiligen Augenblick.
Als wir die Sankt Pauli Landungsbrücken passiert haben und Blankenese an Steuerbord erscheint, schreckt uns der Lautsprecher auf: „Schlepper los!“ „Schlepper los!“ „Was steht ihr da so rum! Habt wohl Langeweile? Habt ihr nicht gehört?“ „Schlepper ist los“, meldet der Zweite zur Brücke. „Los! Dalli dalli! Schleppleine einholen!“, faucht der Bootsmann. 3 Mal dröhnt das Nebelhorn. Wir fahren zusammen, hoffend, dass es die anderen nicht gemerkt haben. Aber ich glaube, es ist allen so gegangen. Auf dem Anleger in Blankenese stehen Menschen, sie winken uns zu. Vielleicht sind Mütter dabei, deren Söhne auf See sind... Die Schraube dreht schneller. Die Schlepper begleiten uns noch ein Stück, fallen langsam zurück. „Achterschiff aufklaren!“ Schmidchen, Hans-Dieter, der ganz Neue, und ich nehmen wieder den Kampf mit der Manila auf. Wir sind ja fast schon professionelle Schlangenbeschwörer. Danach schießen wir die Stahlfestmacher in großen Buchten (Ringen) auf, wickeln die Spring auf ihre Trommel, legen den Kokosvorläufer zickzack darüber, damit er trocknen kann. Trillerpfeifenpfiff von der Brücke. Sachsenberg hat Flötentörn (Bereitschaft), soll wohl Kaffee auf die Brücke bringen.
Und unser Kaffee? Der Scheich taucht auf. „Mickymaus, du machst mit dem Neuen (er zeigt auf mich Namenlosen) das Lotsengeschirr an Steuerbord fertig!“ Die Lotsenleiter liegt aufgerollt neben dem 2. Deckshaus. Wir schleifen sie zur Verschanzung (geschlossene Reling). „Schau her“, sagt Mickymaus, „hier sind 2 Augen auf Deck angeschweißt, extra für die Lotsenleiter.“ Das ist eine Strickleiter mit 2 Paar Hanfseilen, die durch in Holzsprossen gebohrte Löcher geführt sind. Diese Seile sind über und unter den Sprossen mit Bändseln miteinander verbunden, damit die Sprossen nicht rutschen können. Jede 5. Sprosse ist dreimal so lang wie die anderen, damit die Leiter sich nicht verdrehen kann, wenn sie außenbords hängt und das Schiff krängt. „Wir befinden uns am hinteren Ende von Luke 2. Somit hat man von der Brücke einen guten Einblick auf den Lotsenwechsel. Das ist vor allem auf See wichtig, wo das Wasser nicht so ruhig ist, wie hier auf der Elbe. Das Schiff ragt weit genug aus dem Wasser, wir können also fast die ganze Länge ausstecken. Schau her: Zuerst die beiden Tampen am Anfang der Leiter mit einem Rundtörn und zwei halben Schlägen an den Augen auf dem Deck befestigen. Nicht vergessen, erst festbinden, sonst kann es sein, dass die ganze Leiter weg ist.“ Nun rollen wir die Leiter ab bis zum Lukensüll und wieder zurück zur Verschanzung. Den Rest, ein paar Meter, werfen wir über Bord. Dieser entrollt sich schnell, das Ende der Leiter knallt etwas heftig gegen die Bordwand. „War wohl ein bisschen viel“, sagt Mickymaus und schaut hinauf zur Brücke. „Die da oben haben aber nichts davon mitgekriegt. Sind am Kaffeetrinken!“ Dann lassen wir den Rest der Leiter Sprosse um Sprosse hinab, bis alles ausgesteckt ist und prüfen die Knoten. Ein Blick über Bord zeigt uns, dass das Ende so 1 Meter über dem Wasser hängt. „Fast etwas zu hoch. Aber zu tief ist auch nichts, weil sonst die Leiter das Wasser berührt und sich bewegt. Jetzt hängen wir noch die Lotsentreppe über den Schanddeckel und vertäuen sie zur Reling hin, damit sie nicht kippen kann. Noch einen Rettungsring mit Leine in Bereitschaft und eine Wurfleine, falls der Lotse eine Tasche dabei hat, um diese daran hinabzulassen. Den Lotsenwechsel zu überwachen ist Aufgabe der Wachgänger. „Lotsengeschirr bereit an Steuerbord“, melden wir dem Bootsmann. „Zurück an die Arbeit!“, bellt er, „und wenn ihr wieder Dreck außenbords werft, dann macht das so, dass man es von oben (er zeigt mit dem Daumen zur Brücke) nicht sehen kann! Verdammt noch mal, könnt ihr nicht selber denken?“
Anscheinend hat er einen Anschiss gekriegt. Also nicht immer nur wir! Anstatt dass uns mal einer der Alten eine Arbeit richtig erklärt, muss man sich alles von den anderen abschauen. Nur die anderen Kadetten erbarmen sich uns Neuer und erklären, was wie zu tun sei. Das verstärkt die Solidarität in unserem Rattenclub. „Genug getrödelt!“, der Bootsmann war uns auf den Fersen. „Ihr Scheißhacken!