Lourdes. Emile Zola
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Auf der Station SainteMaure entstand ein Lärm, der die Aufmerksamkeit Pierres wieder auf seine Umgebung in dem Wagen richtete. Er glaubte, es wäre irgendein Unfall vorgekommen. Aber die Leidensgesichter, denen seine Augen begegneten, waren noch dieselben, zeigten noch dieselben schmerzverzerrten Züge und die angstvolle Erwartung auf die göttliche Hilfe, die nur langsam herankam. Frau von Jonquière hatte ein Zinngeschirr, das sie reinigte, auf den Boden fallen lassen. Sofort ließ die Schwester Hyacinthe den Rosenkranz von neuem beten, wobei sie mit dem Angelus noch wartete, das nach dem festgestellten Programm erst in Châtellerault gebetet werden sollte. Die Ave folgten rasch aufeinander, es war nur noch ein dumpfes Murmeln, das in dem Lärm und dem Rasseln der Räder sich verlor.
Pierre zählte sechsundzwanzig Jahre und war Priester. Noch einige Tage vor seiner Weihe waren ihm Bedenken gekommen. Das dumpfe Bewußtsein bedrückte ihn, daß er sich binden wollte, ohne sich streng geprüft zu haben. Aber er hatte absichtlich unterlassen, dies zu tun, da er glaubte, mit einem einzigen Entschluß alle Menschlichkeit in sich ertötet zu haben. Sein Fleisch war mit dem unschuldigen Romane seiner Kindheit abgestorben. Er hatte seine Vernunft zum Opfer gebracht in der Hoffnung, das Wollen an sich genüge, das Denken sei gar nicht nötig. Jetzt war es zu spät. Er konnte im letzten Augenblicke nicht zurücktreten. Und wenn er in der Stunde, in der er den Schwur leistete, von einem geheimen Schrecken sich gepackt gefühlt hatte, von einem unendlichen, ungeheuren Bedauern, so hatte er alles vergessen und war göttlich belohnt worden für sein Opfer an dem Tage, als er seiner Mutter die große, lange ersehnte Freude bereitet hatte, ihn seine erste Messe lesen zu hören. Er sah sie noch, seine arme Mutter, in der kleinen Kirche zu Neuilly, in der das Leichenbegängnis seines Vaters gefeiert worden war; er sah sie noch, wie sie an jenem kalten Novembermorgen fast ganz allein in der kleinen dunklen Kapelle kniete und, das Gesicht in die Hände gedrückt, lange weinte, während er die Hostie in die Höhe hob. Sie hatte damals ihr letztes Glück genossen, denn sie lebte einsam und verhärmt. Ihren älteren Sohn sah sie nie. Der war, von anderen Ideen ergriffen, fortgegangen und hatte alle Beziehungen zu seiner Familie abgebrochen, seitdem sein Bruder sich entschlossen hatte, Priester zu werden. Man sagte, daß Guillaume, wie sein Vater ein bedeutender Chemiker, aber verbummelt und in revolutionären Träumereien befangen, ein kleines Haus an der Bannmeile bewohnte, wo er sich mit gefährlichen Studien über Sprengstoffe beschäftigen sollte. Man fügte hinzu, er habe jedes Band zwischen sich und seiner frommen und ehrbaren Mutter dadurch gelöst, daß er in wilder Ehe mit einer Frauensperson lebte, von der man nicht wußte, woher sie stammte. Seit drei Jahren hatte ihn Pierre, der in seiner Jugend Guillaume wie einen älteren väterlichen und guten, lustigen Freund verehrt hatte, nicht wiedergesehen.
Der Tod der Mutter war der nächste schwere Kummer seines Lebens. Es war ein ganz unerwarteter Schlag. Nach einer nur dreitägigen Krankheit war sie plötzlich verschieden. Er hatte sie eines Abends, als er weggelaufen war, um einen Arzt zu holen, bei seiner Rückkehr tot wiedergefunden. Während seiner Abwesenheit war sie gestorben, und seine Lippen hatten noch den erkalteten Hauch ihres letzten Kusses bewahrt. An das übrige erinnerte er sich nicht mehr, weder an die Totenwache noch an die Vorbereitungen, noch an die Beerdigung. Alles dies verschwand in dem Dunkel seines Schmerzes, der so wild sich aufbäumte, daß er beinahe daran gestorben wäre. Bei der Rückkehr vom Friedhof hatte ihn ein heftiger Schüttelfrost befallen, ein Fieber stellte sich ein, und drei Wochen schwebte er, unaufhörlich phantasierend, zwischen Leben und Tod. Sein Bruder war gekommen und hatte ihn gepflegt. Dann hatte Guillaume sich mit der Erbschaftsangelegenheit beschäftigt und nach der Teilung des kleinen Vermögens ihm das Haus und eine kleine Rente überlassen, während er seinen Anteil in barem Gelde mitnahm. Als er ihn außer Gefahr gesehen hatte, war er wieder gegangen und in sein Dunkel zurückgekehrt. Pierre hatte nichts getan, um Guillaume zurückzuhalten, denn er sah ein, daß zwischen ihnen eine weite Kluft sich gebildet hatte. Anfangs hatte er unter der Einsamkeit schwer gelitten. Dann aber hatte er sich in der tiefen Stille der Zimmer, die der Lärm der Straße nicht störte, und unter dem verschwiegenen Schatten des kleinen Gartens sehr wohl befunden. Sein Zufluchtsort war vor allem das alte Laboratorium seines Vaters, das seine Mutter zwanzig Jahre sorgfältig verschlossen gehalten hatte, gleichsam als wollte sie auf diese Weise dort die Vergangenheit mit ihrem Unglauben und ihrer Verdammnis einmauern. Vielleicht wäre sie trotz ihrer Sanftmut und ihrer andächtigen Verehrung für den Gatten doch noch eines Tages zur Vernichtung der Bücher und Papiere geschritten, wenn der Tod sie nicht überrascht hätte. Pierre hatte die Fenster wieder öffnen, den Schreibtisch und die Bücher abstauben lassen, sich in dem großen Lehnstuhl niedergelassen und verbrachte dort köstliche Stunden. Wie neugeboren durch seine Krankheit und in die Tage seiner Jugend zurückversetzt, genoß er durch die Lektüre der Bücher, die ihm unter die Hände kamen, ein ihm unbekanntes geistiges Behagen.
Während dieser zwei Monate langsamer Wiedergenesung hatte er, soviel er sich erinnerte, nur den Doktor Chassaigne empfangen. Das war ein alter Freund seines Vaters, ein gediegener Arzt, der sich bescheiden auf seine Eigenschaft als Praktiker beschränkte und nur den einen Ehrgeiz besaß, seine Kranken zu kurieren. Vergebens bemühte er sich um Frau Froment, aber er durfte sich rühmen, den jungen Priester aus einer schlimmen Lage gerettet zu haben. Von Zeit zu Zeit besuchte er ihn, plauderte mit ihm und suchte ihn zu zerstreuen. Er erzählte ihm von seinem Vater, dem großen Chemiker. Er wußte reizende Anekdoten von ihm zu berichten und rührende Einzelheiten einer innigen Freundschaft. So hatte sich der Sohn während seiner langsam fortschreitenden Erholung von seinem Vater ein Bild von verehrungswürdiger Einfachheit, Güte und Liebenswürdigkeit gebildet. Das war sein Vater, wie er wirklich war, und nicht der Mann der strengen Wissenschaft, wie er sich ihn früher nach den Erzählungen seiner Mutter vorgestellt hatte. Sie hatte ihn allerdings niemals anderes als aufrichtige Verehrung und Hochachtung des teuren Verstorbenen gelehrt. Aber war er nicht der Ungläubige, der Mann der Verneinung, der die Engel weinen machte, der Helfershelfer der Ruchlosigkeit, die sich gegen Gottes Werk richtete? So war er eine düstere Schreckenserscheinung gewesen, ein Verdammter, der als Gespenst im Hause umging, während er jetzt zum hellen, freundlichen Licht wurde, als ein von heißem Verlangen nach Wahrheit beseelter Arbeiter, der niemals anderes erstrebt hatte als die Liebe und das Glück aller. Doktor Chassaigne, ein Sohn der Pyrenäen, geboren in einem Dorfe, wo man noch an Hexen glaubte, würde sich noch eher der Religion zugewendet haben, wenn er auch seit den vierzig Jahren, die er in Paris lebte, seinen Fuß niemals in eine Kirche gesetzt hätte. Er war der felsenfesten Überzeugung, daß Michel Froment, wenn es irgendwo einen Himmel gäbe, sich dort befände und auf einem Throne zur Rechten des lieben Gottes säße.
Und Pierre durchlebte noch einmal in wenigen Minuten die entsetzlichen zwei Monate, in deren Verlauf ihn eine schwere Krisis heimgesucht hatte, nicht etwa, weil er in der Bibliothek Bücher antireligiösen Inhalts gefunden hatte, sondern es war nach und nach ganz gegen seinen Willen in ihm eine wissenschaftliche Klarheit aufgestiegen, ein Ganzes von bewiesenen Phänomenen hatte sich gebildet und die Dogmen zerstört und in ihm nichts von all den Dingen übriggelassen, an die er glauben sollte. Er kam sich nach der Krankheit wie neugeboren vor, es schien, als ob er noch einmal anfinge zu leben und zu lernen in dem angenehmen körperlichen Befinden des Wiedergenesenden, in jenem noch nicht ganz gekräftigten Zustande, der seinem Verstande eine durchdringende Klarheit verlieh. Im Seminar hatte er unter dem Einflusse seiner