Lourdes. Emile Zola
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Lourdes - Emile Zola страница 9
Schließlich hatte sich die Krisis gelöst. Er war Priester und glaubte nicht mehr. Wie ein unendlicher Abgrund tat sich diese Erkenntnis vor ihm auf. Das war das Ende seines Lebens, der Zusammenbruch von allem. Was sollte er tun? Gebot ihm nicht die Ehrlichkeit, die Soutane von sich zu werfen und wieder in die Welt zurückzukehren? Aber er hatte schon genug abtrünnige Priester gesehen, und hatte sie verachtet. Ein verheirateter Priester erfüllte ihn mit Abscheu. Das war ohne Zweifel ein Überbleibsel seiner langen religiösen Erziehung. Er hielt noch fest an der Unverletzlichkeit des Priestertums, an dem Gedanken, daß der, der sich Gott geweiht hatte, sich nicht wieder frei machen könnte. Vielleicht hielt er sich auch schon für zu sehr gekennzeichnet, für so verschieden von den anderen Menschen, daß er fürchten mußte, von ihnen als ein Fremder in ihrer eigenen Welt angesehen zu werden. Da man ihn seiner Männlichkeit beraubt hatte, wollte er auch in seinem schmerzensreichen Stolze für sich bleiben. Und nach langen qual und angstvollen Tagen, nach unaufhörlich wiederkehrenden Kämpfen, in denen sich sein Verlangen nach Glück und die Kraft seiner wiedergewonnenen Gesundheit stritten, faßte er den heroischen Entschluß, Priester zu bleiben, und zwar ein ehrbarer Priester. Da er sein Fleisch ertötet hatte, wenn es ihm auch nicht gelungen war, seine Vernunft zum Schweigen zu bringen, so war er sicher, daß er das Gelübde der Keuschheit halten würde. Und das Leben, das er lebte, war nach seiner festen Überzeugung ein reines und rechtschaffenes. Was bedeutete es für ihn, daß er zu leiden hatte, wenn nur niemand auf der Welt den erloschenen Vulkan in seinem Herzen ahnte, die Nichtigkeit seines Glaubens, die entsetzliche Lüge, an der er sich zu Tode quälte! Sein fester Halt würde seine Unbescholtenheit sein, er würde sein Priesteramt als ehrbarer Mann ausüben, ohne eines der Gelübde zu brechen, die er getan hatte. Er wollte fortfahren, nach den Kirchenvorschriften seine Pflichten als Diener Gottes auszuüben. Er würde predigen, er würde am Altar das Hochamt abhalten, er würde an die Gläubigen das Lebensbrot austeilen. Wer würde wagen, es ihm als Verbrechen anzurechnen, daß er den Glauben verloren hatte? Was konnte man von ihm denn noch mehr verlangen? Hatte er nicht sein Leben seinem Gelübde geweiht, hatte er sein Priestertum nicht hochgehalten, hatte er nicht alle Werke der christlichen Liebe ausgeübt, ohne jede Hoffnung auf eine zukünftige Belohnung? So hatte er sich schließlich beruhigt, stolz und mit hocherhobenem Haupte, in der trostlosen Größe eines Priesters durch die Welt zu gehen, der nicht mehr glaubt und doch fortfährt, über den Glauben der anderen zu wachen. Er stand gewiß nicht allein, er wußte, daß er Brüder hatte, Priester, die dem Zweifel verfallen waren, die aber dennoch am Altare blieben, wie Soldaten ohne Vaterland, und die den Mut hatten, den frommen Betrug auf die kniende Menge herabstrahlen zu lassen.
Seit seiner vollständigen Genesung hatte Pierre sein Amt an der kleinen Kirche zu Neuilly wieder übernommen. Jeden Morgen las er seine Messe. Er war fest entschlossen, jede andere Stellung, jede Beförderung abzulehnen. So gingen Monate, Jahre dahin. Hartnäckig blieb er bei seinem Vorsatze, nur ein gewöhnlicher Priester zu sein, der unbekannteste und niedrigste der Priester, die man in einem Kirchspiel duldet, die erscheinen und wieder verschwinden, wenn sie ihre Pflicht erfüllt haben. Jede höhere Würde wäre ihm nur wie eine Verschlimmerung seiner Lage vorgekommen, wie ein Raub, den er an Würdigeren beging. Er mußte sich wehren gegen die Anerbieten, denn seine Verdienste konnten nicht unbeachtet bleiben. Man wunderte sich im erzbischöflichen Palaste über diese eigensinnige Bescheidenheit. Man wollte die Kraft, die man in ihm ahnte, nutzbar machen. Nur zuweilen empfand er es mit bitterem Bedauern, daß er sich nicht nützlich machte, daß er nicht an einem großen Werke arbeitete, an der Wiederherstellung des Friedens auf der Erde, an dem Heile und dem Glücke aller. Glücklicherweise waren seine Tage frei, und er tröstete sich durch wahre Arbeitswut. Alle Bücher der Bibliothek seines Vaters wurden verschlungen. Dann nahm er seine Studien und Untersuchungen wieder vor und beschäftigte sich eifrig mit der Geschichte der Völker, von dem Wunsche erfüllt, dem sozialen und religiösen Übel auf den Grund zu kommen. Er wollte sich Klarheit verschaffen, ob denn wirklich gar keine Hilfe vorhanden wäre.
Eines Morgens hatte Pierre, als er in einer der großen Schubladen kramte, die sich unten in den Bibliothekschränken befanden, ein Bündel Abhandlungen und Akten über die Erscheinungen von Lourdes entdeckt. Es befanden sich darunter die vollständigen Dokumente, Abschriften der Verhöre der Bernadette, der behördlichen Protokolle, der Polizeiberichte und der ärztlichen Konsultationen, dazu Privatbriefe und vertrauliche Schreiben vom höchsten Interesse. Er war sehr erstaunt über diesen Fund und hatte den Doktor Chassaigne darüber befragt, der sich auch erinnerte, daß sein Freund, Michel Froment, sich leidenschaftlich mit dem Fall der Bernadette beschäftigt hatte. Er selbst, der aus einem in der Nachbarschaft von Lourdes gelegenen Dorfe stammte, hatte dem Chemiker einen Teil dieser Akten verschafft. Pierre hatte sich einen Monat lang leidenschaftlich mit der Sache beschäftigt, von der reinen Gestalt der Seherin wunderbar angezogen, zugleich aber auch empört über das, was später geschehen war, über den rohen Fetischismus, über den jammervollen Aberglauben, über die triumphierende Geschäftstüchtigkeit. In seinem Ringen mit dem Unglauben schien diese Geschichte nur dazu zu dienen, die Niederlage des Glaubens zu beschleunigen. Zugleich aber war sie auch derart, daß sie seine Wißbegierde reizte. Er hätte gern eine Untersuchung angestellt, die wissenschaftliche Wahrheit festgestellt und dem reinen Christentum den Dienst erwiesen, es von dieser Schlacke zu befreien. Er hatte sein Studium aufgeben müssen, da er vor einer Reise nach der Grotte zurückschreckte und die übergroßen Schwierigkeiten erkannte, die ihm die Beschaffung der ihm fehlenden Aufschlüsse machte. So lebte in ihm nur seine zärtliche Liebe für Bernadette fort, an die er nie ohne eine wunderbar rührende Empfindung und ohne unendliches Mitleid denken konnte.
Die Tage schwanden dahin. Pierres Leben wurde immer einsamer. Doktor Chassaigne war plötzlich nach den Pyrenäen gereist. Er hatte seine Praxis aufgegeben und seine kranke Frau nach Cauterets gebracht, die, wie er und seine Tochter mit Bekümmernis sahen, täglich mehr und mehr dahinschwand. Seit dieser Zeit war es in dem kleinen Haus in Neuilly ganz einsam geworden. Pierre hatte keine andere Zerstreuung als die Besuche, die er von Zeit zu Zeit bei Guersaints machte. Sie waren schon lange aus dem Nachbarhaus fortgezogen und hatten sich in einer elenden Straße des Stadtviertels in einer kleinen Wohnung eingemietet. Die Erinnerung seines ersten Besuches dort lebte noch so in ihm, daß er jedesmal einen Stich in seinem Herzen verspürte, wenn er sich seine Aufregung beim Anblick der armen Marie wieder ins Gedächtnis zurückrief.
Er erwachte aus seinen Träumereien, sah sich um und bemerkte Marie ausgestreckt auf der Bank liegen, so, wie er sie damals wiedergefunden hatte, gefesselt an ihren einer Dachrinne ähnlichen Sarg, an dem man Räder anbringen konnte, um sie fortzubewegen. Sie, die einst übersprudelte, immer bereit, zu lachen und zu springen, litt unter der Untätigkeit und dem erzwungenen Stilliegen. Nur ihre Haare hatten sich erhalten. Sie umhüllten sie wie ein goldener Mantel. Sie selbst war so abgemagert, daß sie kleiner geworden zu sein und die Finger eines Kindes wiederbekommen zu haben schien. Was aber in diesem bleichen Gesichte am schmerzlichsten berührte, das waren die leeren, starren