Eine Studentin. Peter Schmidt
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„Und wie denken Sie persönlich darüber, Kommilitonin Meyers?“
„Wenn jede Veränderung im Universum eine Ursache hat, wenn es also nirgends ursacheloses Geschehen gibt und wenn in einem gleichen Bedingungszusammenhang eine Veränderung eintritt, dann ist diese nach Maß und Qualität im Ergebnis notwendig immer die gleiche.“
„In der Tat, ja. Das ist genau der gegenwärtige Stand der Hirnforschung“, bestätigte Hollando. „Unser Problem liegt im naiven Alltagsglauben, es gebe so etwas wie echte Handlungsfreiheit. Auch die Überzeugung, jetzt freie Wahl zu haben, Kaffee oder Tee zu trinken, ist ohne versteckte Kausalfaktoren als Bedingung der jeweiligen Motivation kaum zu verstehen.
Deshalb erklärte schon Immanuel Kant – wohl einer der scharfsinnigsten Köpfe der Weltgeschichte –, echte Willensfreiheit sei eigentlich nur denkbar durch den Beginn einer Kausalreihe aus dem Nichts. Und was genau, Carolin Meyers, sollte die Instanz hinter der Entscheidung sein, Kaffee oder Tee zu wählen, falls Kant sich hier irrt?“
„Alternativ bleiben nur unbekannte Kausalfaktoren, die ihrerseits durch immer weiter zurückgehende Kausalketten bedingt sind.“
„Ausgezeichnet, Carolin … können das alle hier im Saal nachvollziehen?“, erkundigte sich Hollando und blickte verhalten grinsend in die Runde.
„Aber die Quantenphysik – so eine immer noch geltende These von Heisenberg und Bohr – geht doch auf der Ebene der elementarsten Vorgänge vom Indeterminismus aus, von ursachelosem Geschehen“, meldete sich ein bebrillter Student in der zweiten Reihe.
„Danke für den Hinweis, Karlsbach – Ihre Antwort, Carolin?“
„Gern. Ich versuche das Problem mit wenigen Worten auf den Punkt zu bringen. In der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, besonders der sogenannten Unschärferelation, die für indeterministisches Geschehen herangezogen wird, kann Heisenberg gar kein wirklich ursacheloses Geschehen nachweisen, sondern lediglich eine Grenze des Erkennbaren.
Es geht dabei um das Beobachtbare, nicht um das An-und-für-sich der Materie und Energie, wie sie wirklich ist.“
„Das bedeutet für unser Thema der Willensfreiheit, Fräulein Meyers?“
„Wir tappen weiter im Dunkeln.“
„Und dabei wird es auch bleiben?“
„Selbst manche Wissenschaftstheoretiker, wie Karl Popper, plädieren für den Indeterminismus, also ursacheloses Geschehen. Oder argumentieren, dass Determinismus ebenso wenig beweisbar ist wie Indeterminismus.“
„Und sehen Sie da eine Lösung, Carolin?“
„Mir ist noch nicht ganz klar, ob Popper und Kant überhaupt bemerkt haben, dass zwischen dem Satz des Widerspruchs, wie ihn die Logik voraussetzt, und dem Wechsel eines Zustands, der angeblich nicht determiniert sein soll, nur eine leere Zeitspanne der Aufeinanderfolge steht.“
„Heißt das, dann verstößt die These vom Indeterminismus gegen den Satz des Widerspruchs?“
„Nein, gemäß der klassischen Logik nicht, weil der Satz des Widerspruchs, es sei unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukommt und nicht zukommt, ja keine Aufeinanderfolge einschließt.
Aber diese Zeit ist leer, ein Nichts außer Aufeinanderfolge. Was macht es eigentlich plausibel, den Satz des Widerspruchs nicht auch auf solche bloße Aufeinanderfolge zu erweitern?“
„Brillante Analyse, Carolin. Ihr Argument werden wir heute Nachmittag im internen Arbeitskreis anhand der neurologischen und hirnanatomischen Aspekte noch einmal genauer untersuchen.“
„Ist der Kerl nicht eigentlich ein arrogantes Arschloch?“, fragte einer der Studenten, als sie den Saal verließen. „Ganz gleich, ob nun berühmter Nobelpreisträger oder bloß einfacher Latzhosenträger.“
Er bemühte sich gar nicht erst, zu flüstern.
Einige Kommilitonen lachten. Carolin sah ihn in dieser Gruppe zum ersten Mal.
„Na ja“, sagte sie. „Kommt darauf an, ob man die Brisanz des Themas verstanden hat.“
Sie wusste, dass sie einen glänzenden Sieg verbucht hatte. Niemand im Seminar wäre in der Lage gewesen, auf ähnlich hohem Niveau über Willensfreiheit zu diskutieren. Damit hatte sie alle potentiellen Verfolger – vor allem Verfolgerinnen – weit hinter sich gelassen.
Der Arbeitskreis tagte in Hollandos Institut, dem Research Department of Neuroscience (RDN), das sich nach der Verleihung des Nobelpreises zu einer Art Pilgerstätte der Hirnforschung entwickelte. Es bestand aus drei durchgehenden Räumen, man konnte sie schon als kleine Säle bezeichnen.
Im hintersten befand sich der neue 7-Tesla-Magnetresonanz-Tomograph. Er wog über fünf Tonnen, man hatte ihn per Kran durch eine provisorische Öffnung in der Außenwand hieven müssen.
Im hintersten befand sich der neue 7-Tesla-Magnetresonanz-Tomograph. Er wog über fünf Tonnen und sah so bedrohlich aus, als sei es ein aus fremden Galaxien stammendes Raumschiff, ferngesteuert und ohne Insassen.
Am runden Tisch im Arbeitskreis glaubte Carolin plötzlich ihre eigentliche Konkurrentin auszumachen. Ein junges Ding mit hellblonden Haaren und dem Blick einer Schlange …
Professor Hollando legte zweimal betont intim den Arm um ihre Hüfte und lachte aufgedreht, als sie das Institut betraten. Nach Carolins Gefühl strahlte sie ihn dabei an wie eine Vierjährige den Weihnachtsmann.
Auf dem Tisch vor ihr stand ein Namensschild: Anna Schwartz.
Hollando stellte Anna als seine Assistentin vor.
„Schön, Sie alle in unserem Arbeitskreis begrüßen zu dürfen. In den kommenden Tagen werden wir uns dem Thema widmen, wie sich unser Wissensstand über den neu entdeckten genetischen Schalter A-GTS – als Abkürzung für Aversio-Genetic-Toggle-Switch –, der für das