Eine Studentin. Peter Schmidt

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Eine Studentin - Peter Schmidt

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      Auffallend war, dass die bei­den Frauen kein Wort mit­einan­der spra­chen. Erika Haard nickte nur kurz, als sie den Raum betrat, blickte sich su­chend um und setzte sich dann an das ge­gen­über­lie­gende Ende des Tischs.

      „Wieso sprechen die bei­den nicht mit­einan­der?“, fragte Caro­lin.

      „Weil sie sich nicht kennen.“

      „Aber Erika Haard weiß inzwi­schen, wer sie ist?“

      „Wir haben es ihr gesagt, nach­dem sie durch Fo­tos iden­tifiziert wer­den konnte.“

      „Hat sie denn jemanden, der sich um sie küm­mert?“

      „Nein, sie lebt allein. Ihre Freun­din – es war wohl eine lesbi­sche Be­zie­hung – hat sie ver­las­sen. Dann ein Se­cond­hand-Shop in Pa­ris – viel­leicht als Flucht. Ge­schei­terte Be­zie­hung zu ei­nem Far­bi­gen. Alko­hol­pro­bleme. Spä­ter hat sie wie­der die Kur­ve ge­kriegt. Und dann zu­letzt diese üble Ge­schichte mit ihrem Ge­dächt­nis­ver­lust. Ohne frem­de Hilfe wäre sie mo­men­tan kaum le­bens­fä­hig.“

      „Wie schrecklich …“

      „Den anderen geht es auch nicht bes­ser.“

      „Jetzt beugt sie sich vor und flüs­tert Ma­nuela et­was zu“, sagte Ca­ro­lin. „Aber es ist nicht zu ver­ste­hen …“

      „Wir haben die Tonauf­nahme im La­bor ver­stärkt. Sie sagt nur: Scheiße, ich hab meine Ziga­retten ver­ges­sen …“

      „Na, wenigstens daran kann sie sich noch erin­nern.“

      „Mich wun­dert, wieso man wei­ter ganz nor­mal re­det, wenn man sein Ge­dächt­nis verlo­ren hat“, sag­te Ro­bert.

      „Amnesie bedeutet nicht schon Sprach­ver­lust. Meis­t bleibt die Sprach­fä­hig­keit erhal­ten. An­dern­falls sind oft das Broca-Areal oder das Wer­nicke-Zent­rum im Ge­hirn be­schä­digt.“

      „Erklärt das auch, wie­so die­ Frau­en ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren ha­ben?“

      „Nein, wohl eher nicht. Aber ich könnte Pro­fes­sor Hol­lan­do da­nach fra­gen.“

      „Hab mich mal kun­dig ge­macht. Der Mann war ja frü­her ein ziem­lich ange­sehe­ner Kri­mina­list, be­vor er ins Fach Hirn­for­schung wech­selte?“

      „Ach, davon wusste ich nichts?“

      „Versuch ihn doch mal zu über­re­den, uns in der Sa­che zu hel­fen.“

      „Du meinst, als Profi­ler?“

      „Wir nennen das ope­ra­tive Fall­ana­lyti­ker“, sagte Ro­bert. „Da­bei geht’s weni­ger um psy­cholo­gi­sche Täter­pro­file, son­dern was man aus den Fakten fol­gert. Non­ne, Stu­den­tin, Bür­ger­recht­lerin und Man­ne­quin – nach wel­chen Krite­rien hat er sei­ne Op­fer aus­ge­wählt? Und was be­deu­tet das her­aus­ope­rierte Auge über dem Al­tar?“

      „Ich kann ihn ja mal fra­gen“, sagte Ca­ro­lin. „Aber ver­sprich dir nicht zu viel da­von.“

      Als Va­nes­sa Roth den Raum betrat, blick­ten Erika und Ma­nuela nur kurz auf. Die drei Frau­en schie­nen sich nicht zu ken­nen. Va­nessa Roth trug im­mer noch das­selbe ab­ge­tra­ge­ne grau­e Kleid. Sie zog den Rock über den Knien zu­recht und fragte:

      „Was will man von uns?“

      „Keine Ahnung“, sagte Manu­ela. „Die­ser Kerl stellt mir dau­ernd Fra­gen, die ich nicht beant­wor­ten kann.“

      „Geht mir genauso“, sagte Eri­ka Haard. „Er will wis­sen, wo ich wohne und ob ich mich an Paris erin­nere. Er fragt mich, mit wie vielen Niggern ich dort geschlafen habe.“

      Carolin starrte ihren Bruder un­gläu­big an. „Um Got­tes wil­len, geht das nicht zu weit?“

      Robert stoppte den Film und hob besch­wich­ti­gend die Hände.

      „Das gehört zum Job, Caro­lin. Wir ha­ben beim Ver­hör­trai­ning ge­lernt, mög­lichst emo­tiona­le Fra­gen zu stel­len, um eben­so emo­tio­nale Ant­wor­ten zu pro­vo­zie­ren. Starke Ge­fühle wie Em­pö­rung könn­ten hel­fen, alte Er­inne­run­gen zu re­ak­tivie­ren.“

      Vorlesung

      Die erste Seminarstunde nach Hol­lan­dos Rück­kehr war ent­täu­schend. In der Menge der Stu­den­ten schien er Ca­rolin gar nicht wahr­zu­neh­men …

      Das Se­mi­nar glich we­gen des An­drangs eher einer Vorle­sung. Man saß in ei­nem thea­ter­ähn­li­chen Raum mit Bühne und ab­fallen­den Stu­fen und Hol­lando schrieb The­sen auf eine altmo­di­sche Krei­de­ta­fel. Es ging da­rum, die engen Ver­bin­dungen von Neu­ro­lo­gie und Hirn­for­schung mit Mo­tiva­tio­nen und ge­sell­schaft­li­chen Miss­stän­den zu ana­ly­sie­ren.

      „Menschliche Verrohung ist allgegen­wär­tig in der Ge­sell­schaft. Hab­gier, Egois­mus, Hass und Ag­gres­sivität sind an der Ta­ges­ord­nung. Dazu Fol­ter, Ver­ge­wal­ti­gung, Un­ter­drü­ckung, Amok­läu­fer, Selbst­mord­at­ten­täter, Spreng­stoff­an­schlä­ge – und die Prog­nose bleibt wei­ter un­güns­tig. Oder zwei­felt das je­mand an?“, er­kun­dig­te sich Hollan­do.

      „Steinzeit in der Gegenwart …“, mel­dete sich die Stim­me eines Stu­den­ten.

      Lacher und Beifall im Publi­kum.

      „Ein briti­scher His­to­ri­ker hat ein­mal die Kriegs­to­ten der bis­he­rigen Mensch­heits­ge­schichte hochgerechnet. Bis zu drei­ein­halb Milli­ar­den Tote, also etwa die halbe ge­gen­wär­tige Welt­be­völke­rung.

      Eigentlich hätte schon ein zehn­jäh­ri­ges Kind mit durch­schnitt­li­cher In­telli­genz erken­nen kön­nen, dass die Ju­den zur Zeit des Na­tio­nal­sozia­lismus gar kein ge­mein­sa­mes Merk­mal hat­ten wie min­der­wer­tige Rasse, Welt­ver­schwö­rer oder Aus­beu­ter. Da­zu musste man sich nur ir­gend­ein jüdi­sches Schul­kind, den ar­beits­lo­sen jüdi­schen Ar­beiter oder die alte jü­di­sche Ge­müse­händle­rin an der Ecke anse­hen.“

      Hollando machte eine Pause und blickte sich fra­gend im Audi­to­rium um.

      „Und was ist Ihrer Mei­nung nach da­für ver­ant­wort­lich? Sind es die ge­sell­schaftli­chen Ver­hält­nis­se? Un­sere Gene? Man­gelnder gu­ter Wille? Oder Gleich­gül­tig­keit, Ego­is­mus und Be­quem­lich­keit?“

      „Oder Dummheit?“, ergänz­te eine Frau­en­stimme.

      Carolin hob zögernd die Hand und Hol­lando nickte ihr auf­mun­ternd zu.

      „Man könnte auch die Fra­ge stel­len, die ja gegen­wärtig

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