Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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Zum ersten Mal habe ich ansatzweise das Gefühl, Marcels Angst an dem Tag nachvollziehen zu können, als er mich aus dem Labor holte. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein, als er dachte, ich sterbe in seinen Armen. Ich hatte das nie richtig nachvollziehen können.
„Ich will so etwas auch nie wieder erleben müssen“, murmelt Ellen und sie tut mir schrecklich leid. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, frage ich sie nach den Hausaufgaben und ob sie die Seite Mathe schon fertig hat, die unser durchgeknallter Mathelehrer uns aufgebrummt hat.
„Verflixt, stimmt! Das habe ich völlig vergessen“, brummt sie missmutig.
Im Hintergrund höre ich eine Stimme.
„Ah, Erik ist wieder da. Ich muss jetzt erst ein Hühnchen mit ihm rupfen. Der ist gestern Nacht noch abgehauen, nachdem er mir den Schlüssel weggenommen hat und du weg warst. Wir sehen uns dann morgen, okay?“
„Ja klar! Aber es ist wirklich alles in Ordnung. Lass ihn am Leben! Ich möchte nicht, dass du dich mit ihm anlegst“, füge ich schnell hinzu.
Ellen sagt lachend: „Du gönnst mir auch gar nichts. Ich freue mich schon den ganzen Tag darauf, ihn in Grund und Boden zu stauchen.“
So verabschieden wir uns und ich lege auf. Allein und mir etwas verlassen vorkommend, hocke ich auf meinem Sofa. Ellen hatte wirklich schon viel Schlimmes erlebt. Wenn es irgendetwas gibt, was ich für sie tun kann, dann werde ich es tun. Und wenn es nur meine Freundschaft und Schulter zum Ausweinen ist, die ich ihr anbieten kann. Ich mag Ellen echt gerne.
Mich an meinen Schreibtisch setzend, hole ich meine Schulsachen aus der Tasche und mache mich an meine Hausaufgaben. Die Schule ist total schwer. Da kommt man gar nicht durch, ohne zu lernen.
Es klopft an meiner Tür und meine Mutter schaut herein. „Hallo, bist du allein?“
„Ja, sieht wohl so aus“, brumme ich, weil ich gerade keine Lust auf ein Gespräch mit ihr habe.
Sie kommt ins Zimmer und fragt vorsichtig: „Marcel … ist er wieder da? Habt ihr euch wieder zusammengerauft?“
„Haben wir. Er hatte doch keine andere. Das war nur von einem Mädel so hingestellt worden, weil sie sauer war, dass er mit mir zusammen sein will. Es ist alles wieder in Ordnung.“
„Schön, das zu hören. Ich mag den Jungen.“ Meine Mutter grinst zufrieden. „Vielleicht bist du dann auch nicht mehr so viel unterwegs.“
Was soll ich sagen?
„Marcel hat jetzt eine eigene Wohnung in Bramsche. Ich denke, ich werde doch ganz viel weg sein.“
Sofort ändert sich Mamas Laune. „Ach so! In Bramsche!“
„Joup, bei seinem Großonkel im Haus.“ Das hört sich wenigstens seriös an.
„Ah, bei seinem Großonkel! Okay! Nah dann! Wir können dich sowieso nicht mehr aufhalten, erwachsen zu werden.“ Ihr trauriger Unterton entgeht mir nicht. „Was ich noch sagen wollte … wir fahren übermorgen zu Julian. Möchtest du vielleicht mit?“
Ich schüttele den Kopf. „Ich habe den ganzen Tag Schule.“ Mir ist nicht klar, warum ich sofort abblocke.
„Gut.“ Meine Mutter schleicht resigniert aus meinem Zimmer.
Ich werde halt wirklich erwachsen und habe mein eigenes Leben … und meinen eigenen Kopf, und ich will Julian nicht sehen. Mein Traum in der letzten Nacht sitzt mir noch in den Knochen. Sie wollten darin Marcel töten und wenn ich etwas in der vergangenen Nacht gelernt habe, dann, dass ich es nicht überstehe, wenn ihm etwas zustößt.
Ich versuche mich auf meine Schulsachen zu konzentrieren. Aber es fällt mir schwer. Es ist so viel an diesem Wochenende geschehen. Ich begreife das alles noch gar nicht richtig.
Irgendwann habe ich zumindest das Wichtigste geschafft und werfe mich auf mein Bett. Müde und noch völlig gerädert von dem Wochenende nehme ich mein Handy in die Hand. Ich will Marcel anrufen. Noch in Gedanken an das Erlebte der letzten Stunden verstrickt, drücke ich auf meinem Handy herum und halte mir den Hörer ans Ohr. Hoffentlich hat er auch Zeit für mich?
„Carolin?“, höre ich eine vorsichtige Stimme erstaunt fragen und erschrecke. Ich habe Tim am Handy, der nun erfreut ruft: „Hallo, schön, dass du mich anrufst! Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, dass du dich bei mir noch mal meldest.“
Ich bin irritiert und sprachlos, muss aber schnell schalten, will ich mich nicht zum Trottel machen. „Hallo Tim. Ich wollte nur fragen, wie es dir geht“, raune ich völlig neben der Spur. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, weil mich mein eigener Anruf aus der Bahn wirft. Wie konnte mir das nur passieren?
Tim meint zurückhaltend: „Was denkst du? Ich versuche mein Leben in den Griff zu bekommen. Seit zwei Tagen proben wir jetzt hier im Theater und das macht Laune. Wenn ich das nicht hätte, dann müsste ich dich doch noch in einen Flieger zerren und auf einer einsamen Insel mit mir aussetzen.“ Er lacht leise und ich erinnere mich an die Geschichte, die er mir schon mal angedroht hatte. Dass er wenigstens noch etwas lachen kann, baut mich auf.
„Tim, es tut mir alles echt leid und ich bin froh, dass du da jetzt in dem Orchester mitspielst. Und schau mal, du hättest gar nicht in Ruhe dabei mitmachen können, wenn wir zusammengeblieben wären“, versuche ich das Ganze als für ihn gut hinzustellen.
Einen Moment ist es still, dann höre ich ihn brummen: „Stimmt, du bist ja nicht zu bremsen. Verdrehst allen den Kopf, wie es dir gerade in den Sinn kommt. Ich hätte keine ruhige Nacht gehabt.“
Ich schnappe nach Luft. Was soll das denn jetzt? Will er mir allen Ernstes die ganze Schuld in die Schuhe schieben und so tun, als hätte ich es die ganze Zeit drauf angelegt, ihn ins Bett zu kriegen?
„Sag mal …,“ schimpfte ich wütend los. „Was denkst du dir? Ich habe dich schließlich nicht gezwungen, mich mit zu dir zu nehmen und auch nicht, mit mir zu schlafen. Ich habe teuer dafür bezahlt.“
Ich weiß schon, dass ihn das treffen wird. Aber ich bin wirklich wütend. Schließlich springe ich nicht mit jedem einfach so ins Bett. Also, was will der überhaupt?
Leise und mit vor Wut bebender Stimme raunt Tim: „Warum rufst du mich überhaupt an? Ich habe dich auch nicht gezwungen und du wolltest bei mir bleiben. Das hast du zumindest gesagt. Ich habe auch teuer dafür bezahlt, dir das zu glauben. Also lass mich doch einfach in Ruhe.“
Ich würde ihm am liebsten sagen, dass der ganze Anruf nur ein Versehen war und ich ihn gar nicht anrufen wollte. Aber das hätte er mir in hundert Jahren nicht geglaubt.
„Okay, sorry dass ich dich gestört habe. Wird nicht wieder vorkommen“, brumme ich. „Schönes Leben noch.“ Ich drücke das Gespräch aus und starre ungläubig auf mein Handy. Was für eine Scheiße!
Meine Hand, die das Handy hält, zittert und es tut weh, dass von unserer Freundschaft nichts mehr übriggeblieben ist. Aber es ist hauptsächlich meine Schuld. Ich hatte ihm eine neue Hoffnung gegeben und sie auch genauso wieder zerstört.
Mir fällt der Ausspruch von Marcel ein: Ich danke Kurt Gräbler für diesen Fluch, der aus irgendeinem Grund mich in dein Herz brachte, statt jemand anderen.
Vielleicht