Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl
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Papeete, 22. Oktober 1897
Ein Brief von Anne, von einer glücklichen Anne. Sie hat ihr Kind bekommen, schon vor sechs Wochen. Es ist ein Mädchen und Anne hat sie Marlène genannt. Den Namen des Vaters hat sie mir noch immer nicht verraten und ich rechne auch nicht damit ihn jemals zu erfahren, ich will es auch nicht. Es ist Annes Weg, sie muss sich jetzt um ihr Kind kümmern, es aufziehen.
Papeete, 1. November 1897
Auch in diesem Jahr ist mir das Postglück hold geblieben. Der Brief kam schon gestern und ist voll mit Glückwünschen, auch von den Tanten und Onkeln. Die Eltern waren vor einigen Wochen wieder zu Besuch in London. Mutter schreibt über eine Fahrt durch einen Tunnel, der unter der Themse verläuft. Der Tunnel wurde erst in diesem Jahr eröffnet. Mutter war es geradezu unheimlich und sie hat innerlich gehofft, dass die Droschke so schnell wie möglich die andere Seite erreicht. In dem Tunnel war es muffig und feucht, was nicht wundert, wo doch ein riesiger Fluss mit seinen Wassermassen darüber verläuft. Vater war dagegen so begeistert, dass er die Kutsche mehrfach anhalten ließ, um sich die Wandungen des Tunnels anzusehen, was Mutter jedes Mal beunruhigte, da sie dem Schlund, wie sie schreibt eigentlich so schnell als möglich entkommen wollte. Am Ende war sie allerdings auch stolz darauf, die Themse unterquert zu haben. Der Grund des Londonbesuchs war aber ein anderer. Vater ist mit einem Zuckerfabrikanten befreundet. Mr. Henry Tate ist wie die Eltern in Liverpool ansässig, hat aber jetzt seine wohl bedeutende Kunstsammlung der britischen Krone überantwortet, woraufhin eine neue Kunstgalerie in London eröffnet wurde. Mutter und Vater hatten eine Einladung, eine Unternehmung, die Mutter mehr zusagte als die Tunneldurchfahrt. Dann schreibt Mutter natürlich noch über ihren Geburtstag. Ich habe selbst schon nicht mehr an das Ständchen gedacht, dass Thérèse und Julie ihrer Großmutter gegeben haben, aus der Ferne gegeben haben. Mutter hat morgens pünktlich um zehn ganz still auf der Couch im Salon gesessen und die Augen geschlossen. Es gab keine Ablenkung, Vater war schon im Kontor, Miss Hutchinson beim Einkauf. Mutter schreibt, dass sie sich vorstellen konnte, wie die Kinder singen. Ich musste lächeln, Mutter hat es so beschrieben, als wenn sie ganz fest daran geglaubt hat. Ich denke, das ist auch das Wichtigste. Wir werden es jetzt jedes Jahr wiederholen, auch zu Vaters Geburtstag. Mutter muss dafür sorgen, dass auch er ganz fest daran glaubt.
Papeete, 12. November 1897
Schwester Jolanta hat gestern das Schiff genommen, jetzt ist sie schon auf den Weiten des Ozeans. Ich wünsche ihr alles Gute. Ich habe sie vor ein paar Tagen noch einmal besucht, so wie ich es mir vorgenommen hatte. Ich wollte Schwester Jolanta für die Kinder gewinnen, als Erzieherin, wenigstens für ein oder zwei Jahre. Sie hat zwar gezögert, aber ihr Entschluss stand dann doch fest, sie verlässt Tahiti. Sie muss auch nach Frankreich, denn sie will ja aus ihrem Orden austreten. So haben wir uns verabschiedet. Ich bin ein wenig traurig, obwohl ich Schwester Jolanta die letzten beiden Jahre gar nicht mehr gesehen habe.
Papeete, 17. November 1897
Ich habe selbst nicht darauf geachtet, aber jetzt wurde mir erzählt, dass die Post über San Francisco nach Tahiti kommt. Folglich geht der Postverkehr dann quer durch den amerikanischen Kontinent und schließlich über den Atlantik nach Europa. Diese neue Verbindung soll einige Wochen Zeitersparnis bringen, schon nach einem Monat kann ich so einen aus Gayton abgesendeten Brief erhalten. Leider ist es wohl nur ein Versprechen, denn die erste Dampferverbindung nach San Francisco, mit der ich meine Post verschicken wollte, findet nicht statt.
Papeete, 3. Dezember 1897
In den letzten Wochen waren wir häufig an unserem Weiher. Die Mädchen haben zwar noch immer nicht das Schwimmen erlernt, wofür sie ja auch noch zu klein sind, aber es gibt ein neues Vergnügen. Der Weiher wird von einem Wasserfall gespeist. Victor kann dort, wo die Fluten in den Weiher stürzen, noch stehen und er hat sich mit den Mädchen im Arm unter den Wasserfall gestellt. Erst war es den beiden nicht geheuer, aber dann hat es ihnen großen Spaß gemacht, obwohl das Wasser eher kalt war.
Papeete, 22. Dezember 1897
Unseren Hochzeitstag haben wir ausnahmsweise einmal drei Tage zu früh begangen. Gestern hatte sich Victor freigenommen und wir haben die Kinder den ganzen Tag in Fanaas Obhut gelassen. Den Tag hatten wir also für uns, nur für uns.
1898
Papeete, 9. Januar 1898
Victor kennt einen Fischer, der uns jetzt eingeladen hat, mit ihm hinaus auf See zu fahren. Heute am Sonntag, am Nachmittag, haben wir das Angebot angenommen, natürlich ohne die Kinder. Ich hatte zum Glück schon in der Messe am Vormittag ausführlich gebetet. Es war allerdings nicht notwendig. Die See war ruhig und unser Fischer verstand sein Handwerk. Victor hat ihn Otoo genannt, aber ich bin beim Monsieur Otoo geblieben. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich erst gar nicht auf das Boot, es war mir zu klein. Es hat mich schon Überwindung gekostet, aber ich konnte Monsieur Otoo ja auch nicht beleidigen. Ich habe meine Angst heruntergeschluckt und später dann nicht mehr daran gedacht, auch weil es einfach herrlich war. Natürlich fischt Monsieur Otoo nicht auf einem Sonntag, zumindest nicht, um den Fang zu verkaufen und so ging es auch nur um unseren persönlichen Bedarf. Für das Abendbrot haben wir einen schönen Dorsch mitnehmen können, aber dieser Fang war nichts gegen den Hai, den Monsieur Otoo angelockt hat. Er hat ein paar kleinere Fische zerteilt und sie neben das Boot ins Meer geworfen. Es hat nicht lange gedauert und wir sahen eine Flosse, die sich dem Boot näherte. Es war ein recht großer Hai, wie ich meine, aber Monsieur Otoo hat mir versichert, dass die richtig großen Exemplare nicht wegen der paar Fischabfälle kommen würden. Dann habe ich noch einige Schauergeschichten gehört, die ich am liebsten schnell wieder vergessen möchte. Der Hai hat uns einmal kurz sein Maul gezeigt und ich kann mir daher gut vorstellen, dass ein Biss sehr schmerzhaft sein muss.
Papeete, 12. Februar 1898
Ein besonderer Geburtstag für Victor, eine neue Zahl führt sein Alter an. Er ist jetzt vierzig. Vor tausend Jahren waren die Menschen mit zwanzig schon alt, vor hundert Jahren mit dreißig und jetzt? Nein, Victor ist nicht alt, er ist jung, wir machen ihn jung, wir halten ihn jung. Victor hat mir aber verboten, künftig nach seinen grauen Haaren zu schauen. Oh, ich glaube er wird eitel, ich muss jetzt schnell dreißig werden, damit uns wieder nur ein Jahrzehnt trennt.
Papeete, 21. Februar 1898
Vor fünf Tagen ist ein amerikanisches Kriegsschiff auf Kuba, im Hafen von Havanna, explodiert. Die Presse darüber hat uns recht schnell erreicht. Es wird von weit über zweihundert toten Matrosen berichtet. Auf Kuba gab es Aufstände, die sich gegen die spanische Herrschaft richteten. Natürlich ist es im Interesse der Amerikaner, wenn sich der spanische Einfluss auf Kuba verringert. Nach Victors Meinung würden die Vereinigten Staaten eine Unabhängigkeit Kubas nutzen, um dort selbst Einfluss zu nehmen. Was immer auch passiert ist und was die Ursache für die Explosion auf dem Kriegsschiff war, die Leidtragenden sind die vielen toten Männer.
Papeete, 27. Februar 1898
Es ist nicht zu glauben, was Victor mit nach Hause gebracht hat. Ich habe es erst gar nicht richtig wahrgenommen und als Victor dann vor mir stand ließ sich dieser kleine Affe auf seinen Schultern blicken. Ich habe mich richtig erschreckt.