Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl

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Ströme meines Ozeans - Ole R. Börgdahl

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verlässt, sie will nur, dass er bei ihr bleibt, auch wenn sie ihn mit einer anderen Frau teilen muss. Anne ist blind, sie war schon vor zwei Jahren blind. Ich werde ihr raten, Abstand zu gewinnen, dann wird auch ihre Leidenschaft schwinden und sie kann die Angelegenheit ohne jede Schwärmerei überdenken.

      Papeete, 12. September 1896

      Gouverneur Gallet ist schon seit ein paar Wochen im Amt, ich bin ihm aber erst gestern zum ersten Mal begegnet. Es war allerdings nur eine flüchtige Begegnung. Ich wurde ihm zwar vorgestellt, wir haben dann aber nicht weiter miteinander gesprochen. Sein Vorgänger Monsieur Papinaud ist schon lange aus Tahiti fort und wird wohl irgendwo anders mit neuen diplomatischen Aufgaben betraut worden sein.

      Papeete, 25. September 1896

      Die Jérôme ist ein kleiner aber hochseetüchtiger Schoner und sie ist ein französisches Marineschiff mit einer Besatzung von zwanzig Matrosen, fünf Deckoffizieren und drei Offizieren einschließlich des Kapitäns. Die Jérôme ist erst seit sechs Monaten in Papeete stationiert und sie ist für die kleinen Fahrten zwischen den Kommandanturen zuständig. Victor ist damit der Vorgesetzte der Jérôme und ihrer Besatzung. Die Geschäfte haben ihn in dieser Woche nach Moorea geführt und ich durfte mitkommen. Es waren nur kleine Geschäfte und so hat sich Victor noch drei Tage freigenommen, die wir auf Moorea verbracht haben. Die Kinder sind zu Hause geblieben, und auch wenn ich sie schon nach wenigen Stunden vermisst habe, war es doch sehr angenehm so. Auf Moorea verfolgt uns nicht die Hektik Papeetes, es war ein richtiger Urlaub. Die Strände sind wunderschön, kleine Buchten gesäumt von grünen Hügeln. An einem Tag sind wir mit einer Kutsche in die Berge gefahren und haben grandiose Aussichtspunkte besucht. Mein frischer Eindruck verleitet mich, zu behaupten, das Moorea noch schöner ist als Tahiti. Heute Morgen hat uns die Jérôme wieder abgeholt. Das nächste Mal möchte ich länger bleiben und auch die Kinder mitnehmen.

      Papeete, 3. Oktober 1896

      Die große Flut in Japan ist schon ein Vierteljahr her und fast schon wieder vergessen. Jetzt erreicht uns dazu aber die Septemberausgabe des National Geographic Magazines. Victor hat sie mit nach Hause gebracht. In dem Magazin ist ein ausführlicher Artikel über die Katastrophe enthalten. Es war gar keine richtige Flut, wie sie von einem Sturm oder Orkan hervorgerufen wird. Der Auslöser für die Überschwemmungen soll ein Erdbeben gewesen sein. Es ist nicht so leicht zu verstehen, aber wenn unter dem Ozean die Erde bebt, dann kann sich der Meeresboden absenken und das Wasser im Ozean erhält einen Ruck, eine gewaltige Bewegung. Unter Wasser merken die Fische wohl kaum etwas davon, aber an der Wasseroberfläche entsteht eine Welle. Diese Welle hat sich bis an die japanische Küste fortgepflanzt und hat dort zur Flutkatastrophe geführt. Das National Geographic Magazine hat mir dann aber vollends Angst gemacht, denn die Welle kann sich über viele Hundert Kilometer fortpflanzen. Welche Richtung sie dabei nimmt, ist nicht vorhersagbar. Auf meinem Atlas habe ich mir unsere Lage, unseren Standort in dem riesigen Ozean angeschaut. Ich frage mich, was eine solche Welle davon abhält, statt in Richtung der japanischen Küste, auf uns zuzurollen. Ich wage es gar nicht, in der Kolonie jemanden zu fragen, ob sich ein solcher Vorfall schon einmal ereignet hat. Was würde dies für Tahiti bedeuten, für Papeete. Ich zitiere das Magazin nur widerwillig, aber in Japan wurden fast zehntausend Häuser und ebenso viele Fischerboote zerstört und dazu noch Hunderte von Dampfschiffen und Segelschiffen jeder Größe versenkt. An die vielen Tausend Todesopfer, unter denen auch ein französischer Missionar gewesen sein soll, mag ich gar nicht denken. Tahiti hätte sicherlich weit weniger Opfer, schon deshalb, weil hier nicht so viele Menschen leben, was aber nicht beruhigt, wenn Victor oder ich selbst unter diesen Opfern sein könnten.

      Papeete, 17. Oktober 1896

      Es gab in diesem Jahr schon mehrere Briefe von Colonel Dubois, der Letzte macht mich nachdenklich. Victor hat mir wie immer vorgelesen. In Frankreich weitet sich die Stimmung gegen die Juden auch auf das Militär aus. Es ist ja auch alles vom Militär ausgegangen, von der Dreyfus-Affäre. Es ist viel Emotion dabei. Den jüdischen Offizieren wird misstraut, obwohl dies ausdrücklich nicht geschehen soll, aber es geschieht. Colonel Dubois kennt den Brief, weiß, womit dieser Leverne Victor damals erpresst hat. Der Colonel deutet an, dass es in Zukunft nicht günstig ist, wenn jemand davon erfährt, ob es nun die Wahrheit ist oder nicht. Ich wollte eigentlich gar nicht mehr an diesen Leverne denken. Ich habe Victor gefragt, was dies alles für uns bedeuten kann, aber Victor wusste keine Antwort. Er hat mich beruhigt, es wird ganz sicher keinen Einfluss auf unsere Zukunft haben, noch sind wir auf Tahiti, und wenn es in ein paar Jahren so weit ist, dass sich Victor um einen Posten in Paris bewirbt, dann wird Dreyfus schon längst vergessen sein und wenn nicht, wird es auch nichts ausmachen.

      Papeete, 1. November 1896

      Pünktlich zu meinem Ehrentag erreicht mich der Brief von den Eltern. Es ist bestimmt Zufall, denn nichts ist hier unzuverlässiger als die Post. Von Mutter erfahre ich diesmal auch etwas über das königliche Leben in England. Die von Mutter hochverehrte Queen Victoria ist mit Datum des 22. September die am längsten regierende Monarchin Englands. Bislang hatte ihr Großvater Georg III. diesen Titel inne und wurde jetzt von der Enkelin übertroffen. Im nächsten Jahr feiert die Queen sogar schon ihr sechzigstes Thronjubiläum. Mutter wünscht ihr, dass sie es auch erleben möge. Mutter bedauert es immer noch, dass sie die Queen vor zwei Jahren nicht bei der Einweihung des Manchester-Kanals zu Gesicht bekommen hat. Ich denke oft, Mutter wünschte sich auch den Glanz des Kaiserreichs zurück. Ich für meinen Teil bin auf die Republik Frankreich stolz.

      Papeete, 7. November 1896

      Colonel Dubois Bericht über die Stimmung in Frankreich wird durch das Petit Journal bestätigt. Wir haben die Ausgabe vom 27. September jetzt auch vorliegen. Es zeigt den Gefangenen auf der Teufelsinsel, vor seiner Hütte, unter Bewachung eines Gendarmen oder Aufsehers, der die Uniformierung trägt, die ich auch von den Truppen hier kenne. Es scheint die Geschichte eines ganz normalen Gefangenen zu sein, aber genau das ist es nicht. Alfred Dreyfus ist kein normaler Gefangener, er hat sein Vaterland verraten und er ist Jude. Ich will nicht weiter darüber nachdenken. Ich habe Victor nie von meinem Wunsch erzählt, Lucie Dreyfus zu schreiben und ich habe dieses Vorhaben auch schon längst verworfen. Was die ganze Angelegenheit betrifft, haben Victor und ich uns nur sehr wenig ausgetauscht. Wir haben beide das Journal gelesen und ich habe es auch schon fast wieder fortgeschmissen, fast, ich habe es dann doch in eine der Kisten gelegt. Wir haben nicht einmal über den Ball vor zwei Jahren gesprochen, auf dem wir Madame und Monsieur Dreyfus getroffen haben.

      Papeete, 10. November 1896

      Der alte Stoffball ist jetzt vom Haus- zum Gartenspielzeug geworden. Victor ist der Übeltäter. Ich war mit den Mädchen in der Laube, als er mit dem Ball kam und er hat den beiden gezeigt, wie sie dagegen treten können. Ich musste an Vaters Fußballclub in Liverpool denken und daran, dass es wohl bald zwei neue Mitglieder geben wird. Thérèse und Julie sind wie wild hinter dem Stoffball hergelaufen und haben ihn mehr recht als schlecht vor sich hergetreten. Fanaa muss den Stoffball wohl irgendwann einmal waschen. Die beiden Mädchen sind jetzt jedenfalls ganz kaputt, sodass es mit dem Schlafengehen heute vielleicht einfacher wird.

      Papeete, 15. November 1896

      Der Monat geizt nicht mit Post. Das Schiff aus Samoa trägt einen Brief von Aliette zu mir. Die schöne Nachricht, Aliette erwartet ein Kind, sie ist im dritten Monat, sodass die Geburt in den Mai des nächsten Jahres fallen dürfte. Aliette kündigt schon jetzt an, tausend Fragen zu haben, wenn das Kind erst einmal auf der Welt ist. Ich denke es wird alles gut gehen, aber ich bin auch froh, dass ich meine beiden Mädchen noch in Frankreich zur Welt gebracht habe. Auf Tahiti werden auch Kinder geboren, sogar jede Menge, und

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