Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl
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Natürlich mussten wir Victors Geburtstag richtig feiern, wo wir doch im letzten Jahr keine Gelegenheit dazu hatten. Victor ist heute achtunddreißig geworden. Am Morgen gab es nur einen innigen Abschiedskuss von all seinen Frauen. Dann habe ich das Haus dekoriert, Lampions aufgehängt und den Nachmittagstisch schön gedeckt, denn Victor hat heute natürlich etwas früher Dienstschluss gemacht. Wir haben auf ihn gewartet und dann richtig gefeiert, mit Kuchen und Geschenken. Wir hatten jeder ein Geschenk für ihn, auch die Kinder. Mit den Kindern habe ich nämlich Bilder gemalt. Sie haben ihre Hände in Farbe getaucht und dann auf Papier Abdrücke hinterlassen. Das Ganze war schon eine Freude und wir werden es am Wochenende wiederholen, damit Victor es auch einmal erleben kann, wie die Bilder entstanden sind.
Papeete, 22. Februar 1896
Heute ist wieder Post eingetroffen. Mutter schreibt, dass sie und Vater über Weihnachten in Paris waren und ganz begeistert von einer Neuheit sind, die sie im Grand Café am Boulevard des Capucines erleben durften. Es handelte sich um eine fotografische Vorführung mit einem neuen Apparat, der Cinématograph genannt wird. Mutter behauptet, dass damit Fotografien zum Laufen gebracht werden können. Ich kann es mir leider nicht richtig vorstellen, ohne es selbst gesehen zu haben. In Mutters kleinem Päckchen befand sich auch wieder Lesestoff für mich. Im Cosmopolitan ist die Fortsetzung der Dschungel-Geschichten abgedruckt. Ich habe schon hineingesehen und warte nur darauf, dass Thérèse und Julie alt genug sind, dass ich ihnen die Fabeln vorlesen kann. Ich weiß jetzt übrigens aus eigenem Ansehen, was ein Dschungel ist. Im Inneren Tahitis ist die Vegetation mancherorts so dicht und es ist am Tage so heiß und feucht, dass es wie ein Dschungel sein muss. Ich habe mir aber versichern lassen, dass es auf Tahiti keine Tiger, Löwen, Bären oder gar eine Elefantenherde gibt. Wilde Ziegen sind die größten Tiere, die frei herumlaufen. Zum Glück soll es auf Tahiti auch keine Schlangen geben. Vom Cosmopolitan habe ich bislang nur die ersten vier Ausgaben, es fehlen noch einige, denn die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich hoffe Mutter wird mich weiter versorgen.
Papeete, 2. März 1896
Ich habe mir angewöhnt, Fanaa auf den Markt zu begleiten. Sie war anfangs etwas misstrauisch. Sie glaubte nämlich, ich würde sie kontrollieren, ich würde darauf achten, wie viel Geld sie ausgibt, oder ob sie auch wirklich die frischen Sachen einkauft. Ich wollte natürlich die Sprache der Einheimischen hören, sehen, was es für Leute sind und was der Markt alles zu bieten hat. Fanaa spricht mit den Händlern nur Französisch. Ich weiß nicht, ob sie es auch macht, wenn ich nicht dabei bin. Während Fanaa sich dann dem Gemüse und Obst gewidmet hat, bin ich einmal alleine auf dem Markt herumgelaufen. Ich bin schnell zu einer Ecke gekommen, an der Schnitzereien und Holzketten verkauft wurden. Als ich mich umsah, waren zumeist nur noch Weiße als Kunden da, Matrosen und elegante Herrschaften, die sich mit Geschenken eindeckten.
Papeete, 16. März 1896
Es ist wirklich schon ein Jahr her, ich glaube es nicht. Ich sitze vor der Schiffsuhr, die ich kurz vor unserer Abreise in Marseille gekauft habe. Die Uhr zeigt Viertel vor elf am Vormittag. Auf Tahiti haben wir noch den 16. März, es ist Viertel vor zwölf in der Nacht. In Frankreich haben wir aber schon den 17. März, den Geburtstag meiner beiden Mädchen. Plötzlich nehme ich den Geruch des Wäldchens wahr. Es ist nur Einbildung, ich weiß. Genau vor einem Jahr waren wir gerade auf unserem Spaziergang und dann bin ich an dem großen Stein mit meiner Julie niedergekommen. Eine halbe Stunde später war auch Thérèse auf der Welt. Die beiden schlafen jetzt nebenan, ich habe eben gerade noch an ihrem Bettchen gestanden und diesem Moment gedacht. Den Geburtstag feiern wir natürlich erst morgen Nachmittag, wenn Victor vom Dienst zurück ist.
Papeete, 26. März 1896
Ein Brief von Anne. Ich habe mich schon gefragt, warum sie nicht schreibt, wo sie doch an meinen letzten Tagen in Frankreich so sehr meine Nähe gesucht hat. Sie gratuliert den Mädchen zum Geburtstag. Erst im zweiten Absatz schreibt sie von diesem Mann. Sie trifft sich weiterhin mit ihm, sie scheint weiterhin für ihn zu schwärmen. Ich erinnere mich, dass Annes Liebhaber, denn so muss, ich ihn wohl nennen, dass dieser Mann noch verheiratet ist und dass seine Frau sogar ein Kind erwartet. Ich hatte den Eindruck, dass Anne mir noch mehr anvertrauen wollte, aber ihr Brief nimmt plötzlich eine andere Wendung. Sie schreibt über Pierre und Jacques. Sie hat ihren Brüdern meine Adresse geschickt. Den beiden geht es gut. Die Fabrikarbeit haben sie aufgegeben und sind dafür jetzt bei einem Weinhändler in Lohn und Brot. Pierre arbeitet im Lager und Jacques im Versand. Dann gibt es noch Grüße von ihren Eltern, von Tante Carla und Onkel Joseph.
Papeete, 2. April 1896
Victor hat am Montag an einer Jagd teilgenommen. Ich hatte ja schon einmal von den wilden Ziegen berichtet, die sich an den Hängen des Orohena tummeln. Ein paar Mal im Jahr werden sie geschossen, damit sie sich nicht zu sehr vermehren. Ich weiß nicht, ob Victor die Ziege wirklich selbst erlegt hat, denn er hatte nur sein altes Chassepotgewehr zur Jagd mitgenommen. Zumindest aber hat er uns frisches Fleisch mit nach Hause gebracht. Es war so viel, dass Fanaa einiges in ihrer Gemeinde verteilen durfte.
Papeete, 14. April 1896
Ich habe kaum daran gedacht und schon werde ich erhört. Mutter sollte ja noch die fehlenden Ausgaben des Cosmopolitan mit den übrigen Dschungel-Abenteuern schicken. Dabei hat sie in Liverpool das beinahe druckfrische Buch gefunden, in dem alle Geschichten enthalten sind. Eine wunderschöne Ausgabe und die Bilder sind noch wirkungsvoller, noch viel lebhafter als im Cosmopolitan. Bei dem Klima in diesem Teil der Welt ist ein Buch mit seinen dickeren Seiten etwas angebrachter als die dünnseitigen Magazine, die sich schnell abgreifen. Drucksachen müssen allerdings immer trocken gelagert werden, damit sie nicht zu feucht werden oder gar verschimmeln. Meine Bibliothek bewahre ich daher in einem Schrank auf, in den einige Säckchen mit Reiskörnern gelegt sind. Diesen Trick kenne ich von Salzstreuern. Mutter hat in ihrem Brief noch einen Namen erwähnt, der mir gleich bekannt vorkam. Victor hatte auch gleich die Lösung und sagte mir, dass wir den Herrn vor fast zwei Jahren in Rouen gesehen haben und dann fiel es mir ebenfalls wieder ein. Vater hat mit Monsieur de Dion Bekanntschaft gemacht, dessen Dampfwagen damals als Erster und schnellster das Ziel bei der Wettfahrt Paris-Rouen erreicht hatte und daher der eigentliche Sieger des Rennens war. Da dieses Gefährt allerdings nicht dem Reglement entsprach, wurde ihm nur der ehrenvolle zweite Platz anerkannt. Monsieur de Dion hat anscheinend andere Ziele als die, Automobilrennen zu gewinnen. Mutter berichtet, dass Vater eine nicht unerhebliche Summe gespendet hat, um Monsieur de Dion bei der Gründung eines Automobil-Clubs zu unterstützen. Mutter schreibt, dass sie gänzlich gegen diese Ausgabe gewesen sei, weil Vater derzeit weder in Frankreich lebt, noch selbst ein Automobil fährt oder besitzt. Außerdem reiche es ihr, dass ein Fußballverein von Vaters geschäftlichen Erfolgen profitiert. Vielleicht werde ich Monsieur de Dion einmal schreiben und ihn bitten, ein paar Automobile nach Tahiti zu schicken. Ich würde dann auch Mitglied in seinem Club werden, wenn es Vater nicht schon stellvertretend für die ganze Familie ist. Dann noch eine dritte Sache, über die Mutter schreibt und die sie sogar mit einem Exemplar des La Nature belegt. Im Gare Montparnasse hat es ein Zugunglück gegeben, das, so schrecklich es anmutet, auch recht kurios erscheint. Das Kuriose daran sind die Zeichnungen, die den verunglückten Zug skizzieren. Die Lokomotive hat im Bahnhofsgebäude nicht nur den ihr bestimmten Prellbock, sondern auch den angrenzenden Bahnsteig überfahren und ist schließlich durch die große Glaswand gestoßen, die hinaus auf den Platz vor dem Bahnhof führt. Auf einer Zeichnung ist die Lokomotive zu sehen, wie sie von der oberen Galerie gerutscht ist. Mit dem Tender hing sie noch auf der Galerie, während sich der vordere Teil schräg auf dem Place de Rennes stützte. Im Bahnhof selbst blieb der Rest des Zuges unversehrt und war noch nicht einmal entgleist, sodass es unter den Passagieren nur wenige Verletzte gab. Solch ein Spektakel gibt es auf Tahiti nicht und es ist vielleicht auch ein Glück,