I Ging. Andrea Seidl
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Indem das I Ging die Zerrspiegel unserer Fantasien entlarvt und unsere Programmierung aus falschen Glaubenssätzen und irrigen Selbstbildern auflöst, gibt es uns einen Ausblick auf die wirkliche Wirklichkeit. Das wahre Ziel, zu dem es uns hinführen möchte, ist die Einheit mit dem „rechten Weg“, die Einheit mit dem, was wir wirklich sind. - Das ist der einzige Weg, der uns tatsächlich zu Erkenntnis, Zufriedenheit, Verbundenheit und Sinn führen kann.
Innere Wahrheit
Die Erfahrung der Wahrheit ist am Anfang bitter,
doch am Ende schmeckt sie süß.
Mit Illusionen ist es umgekehrt:
Sie sind am Anfang sehr süß,
doch am Ende erweisen sie sich als sehr bitter.
(Buddha)
Die Arbeit mit dem I Ging ist Bewusstseinsarbeit im höchsten Sinne. Es sagt uns immer wieder auch schmerzliche Wahrheiten, die uns geliebte Illusionen rauben. Es geht über unsere Wünsche und Sehnsüchte hinaus und durchleuchtet all die scheinbaren Gewissheiten, die uns glauben lassen, wir wüssten schon, wie die Dinge liegen. Denn genau in unseren selbstverständlichsten oder sogar „heiligsten“ Überzeugungen liegt die Ursache unseres Leidens. Sie gehören zur Welt des Ego, wo wir mal jämmerlich und minderwertig erscheinen und dann wieder großartig und genial – nur eben nie so, wie wir wirklich sind.
Manche Antworten des Orakels werden uns also sehr hart vorkommen, eine echte „Kröte“ fürs Ego, das sich eine andere Realität zurechtgebastelt hatte. Solche Lektionen gehen unter die Haut, weil sie zielsicher dahin treffen, wo unsere „Knackpunkte“ liegen. Doch wenn wir jetzt zurückzucken, müssen wir uns die Frage gefallen lassen: Wollen wir die Wahrheit wirklich wissen? Können wir anerkennen, dass auch im Unangenehmen eine Wahrheit liegen kann, die uns zugute kommt?
Das I Ging steht jenseits anerzogener Vorstellungen von Moral und Vernunft, es bezieht sich auf eine höhere Wirklichkeit, auf eine innere Wahrheit, die wir tatsächlich auch fühlen können, auch wenn es manchmal schwer ist, sie einzugestehen. Es vermittelt uns einfach geistige Gesetzmäßigkeiten – die spirituellen Gesetze des Kosmos. Wenn wir uns an ihre Richtlinien halten, fließen wir ungehindert mit dem Strom des Lebens, wenn wir gegen sie ankämpfen, erleben wir Niederlage um Niederlage.
Die Antworten des I Ging sind immer relativ und auf den gegenwärtigen Augenblick bezogen. Sie sind keine Rezepte oder Regeln, die wir in ähnlich gelagerten Fällen wieder aus dem Hut ziehen können. Das Orakel zeigt uns Lösungen, die genau in diesem Moment genau für uns richtig sind. Es verbindet uns mit unserer ganz persönlichen Wahrheit, die uns spüren lässt, wie wir uns zum jeweiligen Zeitpunkt angemessen verhalten können.
Und jeder Lernschritt, den wir machen, wird von neuen Lernschritten abgelöst. Schritt für Schritt werden uns immer tiefere Wahrheiten enthüllt – dann, wenn wir bereit dafür sind.
Ein spiritueller Weg
Je mehr wir mit dem I Ging arbeiten, desto mehr begreifen wir, dass wir da keinen funktionalisierbaren Mechanismus anwenden, sondern dass wir einer Respekt gebietenden Intelligenz gegenüberstehen. Dieser kosmische Lehrer leitet uns in einem kontinuierlichen Transformationsprozess, in dessen Verlauf wir unser ichverhaftetes Denken und seine Irrtümer überwinden. Wir lernen Abschied zu nehmen von Konzepten wie Schuld und Strafe, wir lernen uns und anderen zu vergeben und auf diese Weise Schicht um Schicht unser wahres Selbst herauszuschälen.
Natürlich kann niemand seine Wirklichkeitsvorstellung einfach über den Haufen werfen, und das ist auch gut so. Wenn unser altes Programm von heute auf morgen zerschlagen würde, würden wir wohl in der Psychiatrie landen. Den Traum loszulassen und aufzuwachen, ist ein Prozess, der letztlich das ganze Leben währt – und noch viel länger. Das I Ging führt uns ganz behutsam in diese Richtung. Es weiß genau, wie viel wir jeweils verkraften können, und dosiert die Wahrheit sehr feinfühlig. Wir können uns langsam, in ganz kleinen Schritten davon überzeugen, dass die Realität nicht das ist, was man uns über sie erzählt hat. Wenn wir ehrlich sind, haben wir ja schon lange den Eindruck, dass etwas damit nicht stimmen kann – denn ganz offensichtlich funktioniert diese Welt nicht richtig.
Wir müssen uns auf unserem Erkenntnisweg also Zeit lassen - Zeit, in der wir am Buch der Wandlungen reifen können, Zeit, in der seine Weisheit in uns reifen kann. Denn wir befinden uns auf einem Pfad der subjektiven Erfahrung, der nicht über den Kopf geht und nicht rational gelehrt werden kann.
Das spirituelle Weltbild dieses Buches
Dieses Buch orientiert sich im Wesentlichen an der Urphilosophie des I Ging. Doch es enthält auch viele neuere Ideen, die über das alte chinesische Gedankengut hinausführen. Wie Anthony und Moog in ihrem Buch „Das kosmische I Ging“ schon anmahnen, kann es nicht der Sinn der Sache sein, alte Weisheiten, so erhaben sie auch sind, als unantastbare Heiligtümer zu behandeln. Wenn das I Ging lebendig bleiben soll, muss es auch weiterentwickelt werden – mit allen Risiken und Chancen eines solchen Prozesses. Wir müssen uns das Recht nehmen, unseren eigenen Erkenntnisweg zu finden. Wer immer nur den Fußstapfen anderer folgt, wird am eigenen Weg vorbeigehen.
Ich habe versucht, im Folgenden einige grundlegende Gedanken darzustellen, auf denen dieses Buch aufbaut. Doch wer sich damit befasst, was die Welt zusammenhält, wie unser Kosmos funktioniert und was unser Menschsein ausmacht, wird früher oder später immer an seine persönlichen und menschlichen Grenzen stoßen. Vieles wird dauerhaft geheimnisvoll und unerklärlich für uns bleiben. Anderes wiederum erfordert einen radikalen Bewusstseinswandel, auf den wir uns nur Schritt für Schritt einlassen können.
Was ist Wirklichkeit?
Die Welt ist das, was du von ihr hältst.
(Grundprinzip des Huna-Schamanismus1)
Die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit bewegt mich schon lange. Ich erinnere mich noch daran, wie aufgeregt ich war, als ich siebzehnjährig die Bücher von Carlos Castaneda2 entdeckte, in denen von einer „anderen Wirklichkeit“ die Rede war. Der amerikanische Anthropologe erzählt darin, wie er bei einem Schamanen der Yaqui-Indianer in die Lehre ging und mit einer völlig fremdartigen Beschreibung der Welt konfrontiert wurde. Damals, in den Siebzigern, wurde in meinem Bekanntenkreis heiß diskutiert, ob die Erlebnisse Castanedas fiktiv oder echt waren. Ich selbst war tief bewegt, erregt, ja aufgewühlt von dem, was ich da las. Ich konnte nicht erklären, warum, aber ja, ich war überzeugt, dass mir da eine grundlegende Wahrheit begegnete. Castaneda und sein Lehrer Don Juan zeigten mir einen ersten Ausweg aus der engen Weltdeutung meiner Herkunft, die sich zwischen Katholizismus und Materialismus bewegte. Seither hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.
Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrheit? Die Alltagsvernunft hält sich an das, was funktioniert und empirisch nachgewiesen werden kann: Materie ist fest, die Zeit verläuft linear von der Vergangenheit in die Zukunft, Wirkungen beruhen auf Ursachen... Von solchen „Fakten“ wird abgeleitet, was „realistisch“ sei. Dazu gehören dann auch soziale Gesetzmäßigkeiten wie „Geld regiert die Welt“ oder „Wenn du nett bist, wirst du geliebt“. Gleichzeitig sperrt sich unser materialistisch orientierter Verstand, dem, was wir fühlen und spüren, ebenfalls Realitätsstatus zuzuerkennen. Gefühle, Bedürfnisse, Intuitionen gelten als subjektiv und unzuverlässig und werden deshalb ignoriert. Auf diese Weise kommt es zu dem merkwürdigen Paradox, dass sich oft gerade Menschen, die sich für besonders „realistisch“ halten, über ihre wahren Motive hinwegtäuschen, weil sie eben stereotyp nach draußen schauen und nur dort Wirklichkeit erkennen wollen.