I Ging. Andrea Seidl

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I Ging - Andrea Seidl

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oder der Sklavin, des Fürsten oder Vasallen schlüpfen, um besser zu begreifen, was der Text sagen will. Heute sind wir in dieser Rolle, morgen in jener.

      Wer eine innere Offenheit besitzt, die nicht am Buchstaben klebt, wird früher oder später in Kontakt mit jener größeren Macht treten, die ich in meinen Hexagrammtexten „Kosmos“, „inneren Lehrer“ oder auch „Heiligen Geist“ genannt habe. Sobald diese Verbindung „einrastet“, geschieht etwas Magisches mit uns: wir richten uns innerlich neu aus, im sicheren Gefühl, vom Leben getragen zu werden. Etwas in uns begreift, dass wir nie alleine sind, dass da eine Präsenz ist, die uns sieht, die in jeder Minute bei uns ist, immer bereit, uns zu unserem Weg zurückzuführen. Gerade wenn wir selbst spüren, dass wir uns verirrt haben, sehnen wir uns nach so einer sanften Führung, die geduldig und humorvoll über unsere Fehler hinwegsieht, um uns immer wieder an unsere höchsten Möglichkeiten zu erinnern. Oft braucht es ja den Druck massiver Belastungen, dass wir bereit sind, vom Thron unseres Ego herabzusteigen und unsere menschliche Begrenztheit, unsere Ratlosigkeit einzugestehen. Doch wenn so ein Punkt erreicht ist, dann sprechen wir wieder mit Gott und dem Heiligen in uns.

      Selbsterkenntnis

      Selbsterkenntnis ist für spirituelle Sucher ein hoher Wert, doch im Allgemeinen fehlt uns leider der Abstand zu unseren Themen. Wir kleben gewissermaßen mit der Nase daran und bemerken deshalb nicht, wie unsere Konditionierungen und die im Umfeld herrschenden Meinungen uns eine ganz bestimmte Sichtweise aufdrängen, die möglicherweise wenig mit der Realität zu tun hat.

      Das I Ging stellt unsere Frage dagegen oft in einen radikal anderen, übergeordneten Kontext. Es zeigt uns, wie die aktuelle Situation sich zum Hintergrund des Tao und der kosmischen Ordnung verhält. So hilft es uns, schwierige Situationen zu durchschauen und neue Perspektiven zu finden.

      Die Welt als Spiegel

      Im Alltag leben wir nach den Gesetzen dieser Welt und dieser Gesellschaft. Wir haben uns aus unseren subjektiven Erfahrungen ein persönliches Modell von der Welt konstruiert, und glauben deshalb, sie zu kennen. Diese Vorannahmen werden zu Erwartungen, die sich selbst bestätigen. So gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass wir von unserer Umwelt, den Menschen, den Ereignissen getrennt sind und uns deshalb immer wieder mühsam mit „fremden“ äußeren Umständen herumschlagen müssen.

      Wenn wir nun dem I Ging Zugang zu unserer Welt verschaffen, geschieht etwas Merkwürdiges: Stück für Stück, Überzeugung um Überzeugung wird dieses Weltbild hinterfragt und langfristig aufgelöst. Das I Ging lehrt uns nämlich mit äußerster Beharrlichkeit, dass unsere Umstände sehr wohl etwas mit uns zu tun haben, dass das, was wir in der Außenwelt erleben, ein getreues Spiegelbild unserer Innenwelt ist.

      Diese Lektion beginnt schon auf der semantischen Ebene des Urtextes, der keine Pronomen kennt. Das ist weit mehr als eine zu vernachlässigende Eigentümlichkeit der chinesischen Sprache, darin liegt eine tiefe, wenn auch verunsichernde Weisheit: Jeder Orakelspruch kann sich sowohl auf uns als Fragesteller beziehen, wie auch auf Personen, mit denen wir zu tun haben, und auch auf die Situation, in der wir uns befinden. Genau besehen, spielt es gar keine Rolle, wer da genau gemeint ist, denn all das gehört zu unserer Welt, die nur widerspiegelt, was in unserem Unbewussten vorgeht. Alles, was wir im Kontakt mit der Umwelt erleben, ist letztlich eine Projektion unserer inneren Prozesse.

      Wenn in einer Orakelantwort etwa von einem „Gemeinen“ die Rede ist, fühlen wir uns oft erst einmal bestätigt: „Ja genau, das ist dieser widerliche Mistkerl, der mir das Leben schwer macht“… In anderen Momenten spüren wir sofort, dass wir selbst angesprochen sind – dass es um unser eigenes kleines Ich, unser Ego geht. Und je tiefer wir tiefer forschen, desto mehr wird uns klar, dass in der allerletzten Konsequenz kein Unterschied zwischen innen und außen besteht.

      Für viele wird diese Idee nicht ganz neu sein – wir finden sie wieder im sogenannten Resonanzgesetz, das besagt, dass wir all das schicksalhaft anziehen, was wir selbst in uns tragen. Das tiefgründige spirituelle Werk „Ein Kurs in Wundern“ vertieft diesen Gedanken weiter. Es vergleicht unsere Welt mit einem Traum, der immer wieder zum Albtraum wird. Im Traum sind wir gleichermaßen Regisseur, wie Hauptdarsteller, und auch die Kulissen, das Wetter, die anderen Akteure - alle sind unser Werk. Doch gerade wenn wir „schlecht träumen“, ist das schwer zu akzeptieren – denn wie kann es sein, dass wir uns das alles selbst antun? Wir sind uns nicht bewusst, dass wir selbst etwas dazutun, geschweige denn, warum – und das gilt ebenso für unsere nächtlichen Träume wie für den Traum unseres Lebens, den wir am helllichten Tag träumen.

      Auch in der Psychologie gibt es eine Schule - den von Paul Watzlawick begründeten Konstruktivismus - die sich damit befasst, dass die Wirklichkeit keine objektive Größe ist, sondern ganz und gar von unseren persönlichen Filterungen und Interpretationen abhängt. Unser Gehirn konstruiert die Welt mehr, als dass es uns ein zuverlässiges Abbild davon liefert. Scheinbar faktische Erfahrungen sind die kreative Leistung unseres Geistes! Im Fazit ist alles, was wir wahrnehmen und denken, gelernt und beruht auf unserer Biographie – wir sind dadurch im Grunde programmiert wie ein Computer.

      Das heißt im Klartext: Es gibt also gar keine objektiv-rationale Sicht von mir selbst und der Außenwelt! So wie ich wahrnehme, interpretiere ich die Welt und so wie ich die Welt deute, nehme ich sie wahr… Solange wir diese Zusammenhänge nicht erkennen, bleiben wir in unserem Programm gefangen und halten es noch für die Wirklichkeit. Kein Wunder, dass wir strampeln und strampeln und doch nicht viel zuwege bringen.

      Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir uns das zugrundeliegende Programm anschauen, statt hilflos vorne am Bildschirm herumzukratzen. Wir müssen erkennen, dass wir selbst unsere Welt projizieren. Wir sind das Drama im Film unseres Lebens, wir sind die Zuschauer und wir sind die Projektoren. Wir erleiden den Film, den wir selbst gedreht haben. Wir sind die Schöpfer unserer Welt und damit verantwortlich für alles, was darin vorgeht (doch Achtung, es wäre fatal hier Verantwortung mit Schuld zu verwechseln!).

      Diese Sichtweise ist radikal und nimmt uns all unsere Ausreden und Rechtfertigungen. Wir können uns nicht mehr in die Opferrolle flüchten, sondern werden glasklar mit uns selbst konfrontiert – doch nicht, um uns klein zu machen, sondern um uns von unserer unbewussten Destruktivität zu befreien! Das I Ging lässt uns die vielen Muster unseres unrealistischen Selbst- und Weltkonzepts erkennen. Es räumt auf mit Wahnbildern, geistigen Verirrungen und Selbsttäuschungen, es löst unsere Ängste und Borniertheiten. Indem es uns anleitet, liebevoll unserem Herzen zu folgen, setzt es uns wieder ins richtige Verhältnis zur Welt.

      Selbstentwicklung

      Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem I Ging hilft uns, tiefere Zusammenhänge zu verstehen, die unserer Beobachtung sonst entgangen wären. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit wird geschult, während all unsere Urteile und Bewertungen einer strengen Prüfung unterzogen werden.

      Wie bei allen differenzierten Orakelsystemen handelt es sich auch hier um eine Methode der Selbsterforschung, die uns und unser Weltbild verändern kann. Die Orakelantwort offenbart uns, ob wir im Einklang mit dem Großen Ganzen sind und wo wir eventuell den Fluss verlassen haben. Es zeigt uns den Weg zu uns selbst.

      Das übliche westliche Zielverständnis geht stets vom Ego aus: Wir meinen, durch eigene Anstrengung den Weg finden zu müssen, der uns das gibt, was wir uns vom Leben erwarten. Die östliche Weltsicht setzt dagegen voraus, dass wir von Natur aus im Kontakt mit dem rechten Weg sind und ihn nur nicht verlieren dürfen, wobei gerade das Ego uns oft auf Abwege lockt.

      Ansehen, Erfolg und Reichtum spielen für das I Ging keine Rolle. Wollten wir es nur benützen, um uns im Alltag Vorteile zu sichern, würden wir langfristig wohl wenig Gewinn daraus ziehen. Zu Beginn lässt es sich vielleicht noch auf Fragen dieser Kategorie ein - wie

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