Steintränen. Manja Gautschi
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Isara nickte „Ja, richtig. Es ging alles ein wenig drunter und drüber.“ ein Verlegenheitslächeln überkam Isara. ‚Oje’ so kannte sie sich eigentlich gar nicht. Aber seit sie von Zylin quasi erstochen worden war, fühlte sie sich, als ob ihre Gefühle ständig unkontrolliert zerlaufen, in alle Richtungen. Sie hatte keine Kontrolle mehr darüber. Fürchterlich.
„Bitte, setzen Sie sich doch“ Ralph bot ihr den bequemen Sessel an. Sie setzte sich, er nahm den Holzstuhl beim Tisch, setzte sich ihr gegenüber. Er war einerseits neugierig, andererseits vorsichtig. Könnte auch nur ein weiterer tückischer Versuch sein an Informationen zu kommen. Kitel könnte denken, wenn er ihm nach der Episode von vorhin eine nette Dame schickt, dass er, müde wie er war, doch noch das Eine oder Andere preisgab. Irgendwie fühlte sich diese Frau zwar nicht so an. Trotzdem.
„Danke, dass Sie sich Zeit nehmen für mich. Ich weiss, es ist schon spät und Sie wollten sicher schlafen gehen.“ eröffnete Isara nun das Gespräch, sie hatte sich wieder gefangen, für den Moment, zumindest.
Ralph lächelte „Das müssen Sie nicht tun. Lassen Sie das.“ „Was?“ „Das ist offensichtlich nicht ihr erstes Gespräch mit einem Gefangenen: Dem Gefangenen ein gutes, aufbauendes Gefühl geben, indem man ihm suggeriert, er sei Herr seiner eigenen Lage. Damit er eher mit einem plaudert. Als ob ich es mir aussuchen könnte, wann, wo und wem ich Zeit schenken kann. Janus würde mich zum Bett herauszerren, wenn es jemand verlangte.“ er lächelte weiter „Ich trage ein verfluchtes Hundehalsband“ er zeigte auf seinen Hals „Glauben Sie mir, ich weiss, in welcher Lage ich mich befinde. Da nützt kein ‚Schönreden’.“
„Aber nett und anständig ist es trotzdem. Sie sind ja immer noch ein wertvoller Mensch mit Würde, ob Sträfling oder nicht.“ entgegnete Isara. Zumindest war das Eis gebrochen, fand sie erleichtert. Und sie mochte diesen Ralph auf Anhieb, eigentlich, auch wenn er irgendwie unnahbar und verschlossen wirkte. Geheimnisse umgaben ihn, dass konnte Isara spüren, oder glaubte es zumindest. Aber er wirkte sehr angenehm.
„Da ist was dran.“ Ralph lächelte nicht mehr, nickte mit dem Kopf, wurde ernst „Also: Gern geschehen, ist kein Problem.“
„Warum ich Sie sprechen wollte“ fuhr sie fort. Ralph hörte aufmerksam zu, wartete. Und statt weiter zu reden, wickelte Isara ihren Verband ab. Ralph sah fragend zu Janus, der bloss mit den Achseln zuckte, er hatte keine Ahnung was das sollte.
Schnell zog Isara das Oberteil wieder über den Bauch. Hoffentlich beging sie keinen Fehler. Sie sah zu Janus „Können wir vielleicht die Tür schliessen?“
Sie hatte sich die ganze Zeit über so darum bemüht, dass es keiner sieht, dann wollte sie jetzt auch kein Risiko eingehen. Dass jemand zufällig gerade durch den Gang lief, oder so. Janus schloss die Tür, blieb aber im Zimmer.
„Wissen Sie was das ist?“ Isara hob ihr Oberteil gerade so viel, dass man die Einstichstelle sehen konnte. Es war alles verheilt. Sie hatte schon lange keine Schmerzen mehr. Nur dort, wo die Einstichstelle war, war eine Art Tätowierung ‚gewachsen’. Sah aus wie kleine Würzelchen. Sie hatte versucht es abzuwaschen. Ging nicht. Zwischen den feinen Linien erschien eine Art Symbol oder so. Eines wie ein ‚V’ mit Steinbockhörnern.
Ralph nahm sich die Brille vom Tisch, beugte sich soweit er konnte nach vorne, verschränkte die Arme um Isara auf keinen Fall zu nahe zu kommen. Sah sich die Stelle an. Überlegte einen Moment. Setzte sich wieder aufrecht auf seinen Stuhl, nickte. „Hmmm...ja, ich weiss was das ist.“ bestätigte er nachdenklich.
Für einen Moment hielt sich Isara die Stelle mit der Hand, streichelte sie zärtlich. Es war ganz warm. Dann zog sie das Oberteil wieder darüber, verdeckte es.
„Was soll ich nur tun? Wächst das weiter? Was ist das? Ist es gefährlich?“ Ralph rieb sich mit der rechten Hand seinen Van Dyke Bart. Was konnte er ihr sagen? Er hatte versprochen, dieses Wissen wirklich nur für sich selbst zu nutzen. Andererseits wusste Isara ohnehin schon, was geschehen war und hatte es offenbar noch niemandem anvertraut. Oder? Also fragte er „Wer weiss noch davon?“ „Niemand! Das ist ja das Problem. Ich kann’s niemandem sagen. Das schulde ich ihm.“ „Wie? Wem?“ Ralph runzelte die Stirn. Dann kratzte er sich an seinem hauteng anliegenden gute 5 cm breiten Halsband unter dem es immer juckte, und sobald sich sein Puls erhöhte richtig unangenehm wurde.
„Das ist ziemlich eng. Sieht unbequem aus. Muss das so eng sein?“ wechselte Isara das Thema. Nun kratzte sich Ralph auch auf der anderen Seite, es juckte. „Das Praktische an diesen Dingern ist“ fing er an, während er nun rieb „wenn man nicht einschlafen kann, braucht man nur etwas kräftiger daran zu hantieren und ziehen. Dann pumpen einem fünf feine Nadeln mit einem schnell wirkenden Betäubungsmittel voll und man ist weg.“ Isaras Augen wurden gross, sie war entsetzt. Gerade als Mediziner musste er es besser wissen „Das ist nicht ihr Ernst? Das ist dumm und belastet den Körper unnötig. Ein Risiko! Das mag zwar wirken, aber die Dosierung ist völlig unkontrolliert, kann jedes Mal zuviel sein!“
Endlich ging’s wieder einigermassen. Ralph hörte auf zu kratzen und reiben „War ein Witz. Sollte Ihre aufkommende Nervosität abfangen.“ „Oh“ Ralph zeigte auf Janus „Die Dinger sind nur gut um die Wächter zu ärgern.“ nun runzelte Isara die Stirn „Wie das?“ Ralph lächelte „Als Strafgefangener wird einem ständig gesagt, was man zu tun hat.“ er zuckte mit den Achseln „Hat man keine Lust dazu, kann man sich damit selbst betäuben und ausser Gefecht setzen. Dann sind die Wächter ein wenig beschäftigt. Wie Sie sagen, es gilt dann immer so schnell als möglich den Betäubten zu bergen und wieder aufzuwecken.“ „Dafür gibt es bestimmt eine saftige Bestrafung danach. Das ist genauso dumm.“ nun lachte Ralph „Ja, richtig. Aber was tut man nicht alles aus Langeweile.“ Derweil schüttelte Janus genervt den Kopf und Isara wusste, das war kein Scherz gewesen.
Jedenfalls hatte dieses Intermezzo tatsächlich funktioniert und Isaras eben noch sich aufbauende Nervosität war verflogen. Genauso komisch hatte es sich auch vorhin angefühlt, als Janus die Schere aus Ralphs Hosentasche genommen hatte. Als ob es zwei unterschiedliche Ralph Auerssons gäbe: einen Arzt und einen gefährlichen, unberechenbaren Gefangenen, vor dem man sich ständig in Acht nehmen musste. Sie hatte sich schon gefragt, weshalb ihn Janus vorhin ‚Spitzbube“ genannt hatte. Jetzt passte die Bezeichnung.
Trotzdem beschloss sie ihm zu vertrauen. Sie hatte sonst niemanden, er war die einzige Option.
„Versprechen Sie mir, es nicht Dr. Kitel oder jemand anderem weiterzuerzählen, was ich Ihnen nun erzähle?“ Ralph stutzte. War komisch, denn eben war er es noch gewesen, der sich gefragt hatte, was er dieser fremden Frau preisgeben wollte und was nicht. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut, hatte vollstes Verständnis. Blieb aber aufmerksam, vielleicht war diese Frau nur unglaublich clever und wickelte ihn schlicht um den Finger, um ihn zum Reden zu bringen. Wäre mit Abstand die beeindruckendste Verhörtechnik, die er bisher präsentiert bekam.
„Versprochen. Jedenfalls für meinen Teil. Für Janus kann ich nicht garantieren.“ er blickte Janus an, der die Hände verwarf „Also Leute, ich lass euch bestimmt nicht alleine hier. Aber bitte: Ich verspreche, was ich hier höre, bleibt hier. Ist ja quasi mein Job. In Ordnung?“ er verschränkte erneut die Arme, stellte sich breitbeinig hin.
Isara