Dünenvagabunden. Katrin Maren Schulz
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In etwas mehr als zwei Monaten schon wird er hier sein, er hat eine einfache Fahrt zu mir nach St. Peter-Ording gebucht. Bei seinen früheren Besuchen war immer auch die Rückfahrt schon mit dabei. Diesmal nicht. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat. Aber ich habe die Geduld, darauf zu warten, bis er es mir erzählen wird.
Zwei Menschen werden also plötzlich in meinem Leben sein, das doch in den letzten Jahren absolut menschenarm war. Zwei Menschen, die ich mag. Die einzigen beiden Menschen, die ich mag.
Vor Jahren, als ich aus meinem alten Leben ausgestiegen bin, hatte ich mich dazu entschlossen, auch alle Kontakte zu kappen. Ich wollte mein altes soziales Umfeld nicht mehr um mich haben, weil es zu meinem alten Leben, zu alten Gedanken, zu alten Lebenseinstellungen gehörte, die ich allesamt beenden wollte. Denn mir wurde damals klar: es kann, unter den falschen Menschen, sich viel einsamer anfühlen als unter gar keinen Menschen.
Ich brauchte diese Jahre ohne menschliche Kontakte, dafür mit umso mehr Kontakten zur Natur. Denn in ihr spüre ich diese absolute Verlässlichkeit, die mir zuletzt bei den Menschen, ja auch bei sogenannten Freunden, fehlte.
Was also blieb, waren der Dünenwald, die Salzwiesen, Ebbe und Flut und das Watt und die See. Eben das vom Land, auf das der Mensch keinen Einfluss haben kann. Ich wollte eins sein mit dem, worauf kein Mensch Einfluss hat. Denn ich wollte, dass niemand Einfluss auf mich hat.
Und nun, mit Kai und Marielou, wird alles anders werden. Oder auch nicht, denn sie sind die einzigen, denen ich zutraue, dass sie wissen wie ich fühle, wer ich bin, und vor allem wie viel Abstand und Abgeschiedenheit ich brauche.
Vielleicht bin ich eine reinkarnierte Nixe, eine von denen, die ich am Ordinger Strand in den Dünen oft sehe. Denn dort sind die Dünen weich und rund wie Nixenleiber, die Fasern der Fischernetze ihr Haar. Stranddisteln darin mit ihren stacheligen Blättern halten den Menschen fern.
Nixenleiber, über sie hinweg treibt der Sturm den Sand. Sie räkeln sich und winden sich in der Sonne. Ich bin zu klein, um mich ihren Körperformen anzupassen. Zu klein, und vielleicht auch zu kantig. Darf ihnen nur zusehen bei ihrem Dasein, aus dem schützenden Dünengras heraus.
Ein Büschel ihres Haars hat sich an einem Pfosten verfangen. Ich weiß nicht, ob ich es befreien soll, oder ob es ein Symbol für sie ist. Welche Sprache sprechen sie? Ihre Laute sind wie ein Gurren in hohen, lieblichen Melodien. Verstehe sie nicht. Darf aber bei ihnen sein. Verstehe sie doch:
„Hab keine Angst“, gurren sie, „folge einfach unseren Fußspuren.“
Und ich folge den Fußspuren der Nixen.
Warum eigentlich sagen sie mir, ich solle keine Angst haben? Mir, die seit Jahren abgeschieden in ihrer Einsamkeit lebt - mir sagt jemand, ich brauche keine Angst zu haben?
Ich stapfe am Rande der Dünen entlang, Richtung Westerhever. Stapfe, fast wütend, pfff, ich und Angst!
„Und du hast sie doch“, flüstert es aus der Dünenlandschaft, in der ich die Nixenleiber sehe, heraus. „Du hast Angst vor den Menschen, das ist nicht gut für dich!“
Sie sprechen aus, was ich vor mir selbst verleugne. Ja, ich habe Angst vor anderen Menschen.
Diese Angst kam, als ich erkannt hatte, wie einengend und fern jeglichen Lebensflusses ich doch eigentlich dieses Städterleben finde, das fast nur aus Erwerbsarbeit bestand, und das ich viel zu lange geführt hatte, bevor ich daraus ausgestiegen bin. Damals begann diese Angst. Ich habe mich zurückgezogen, weil ich merkte: mein Umfeld passt nicht mehr zu mir.
Und vielleicht wissen die Nixen in den Dünen auch von dem anderen Problem, das ich in meinem Stadtleben zuletzt sich ins Unerträgliche steigernd hatte. Dieses Problem, das ich nicht wahrhaben wollte - das aber mein Körper mir in aller Deutlichkeit signalisiert hat, mich genötigt hat es wahrzunehmen, mich aufgefordert hat langsamer zu machen und mich abzuwenden von Trubel und vielen Menschen.
Denn da, wo viele Menschen sind, sind auch viele Geräusche. Natürlich. Es ist selbstverständlich.
Mein Körper konnte Geräuschkulissen und Lärm nicht mehr ertragen. Er wollte sie nicht mehr hören. Am Ende war es so schlimm, dass ich mir manchmal die Ohren zuhalten musste, wenn ich in der Stadt unterwegs war.
Wenn ich es mir eingestehe, überrollen mich Schauer der Angst und der Furcht. Es lähmt, dieses körperliche Symptom, dieses Signal, das der Körper aussendet, um den Geist zur Ruhe zu zwingen. Es lähmt, es macht gesellschaftsunfähig, es macht das alltägliche Leben oft unerträglich: von Alltagsgeräuschen überfordert zu sein. Und es wird noch schlimmer dadurch, dass diese Körpersignale als Krankheit kaum bekannt sind.
„Ich muss gehen, mir ist es hier zu laut“, habe ich einmal in einer fröhlichen Runde im Restaurant gesagt. Die meisten in der Runde haben gelacht. Sie haben mich ausgelacht, und mir faule Ausrede unterstellt. Dabei habe ich gelitten.
Ein anderes Mal bin ich geblieben, obwohl es mir zu laut war. Ich wollte es nicht wahrhaben, ich wollte weiter mittendrin sein in meinem gesellschaftlichen Umfeld.
Und in diesem Umfeld hat Geschirr geklappert und Kaffeemaschinen haben Bohnen gemahlen und Gläser haben geklirrt und Bier kam zischend aus dem Zapfhahn und Menschen haben gelacht und gekreischt und einander zugerufen, dazu lief Musik und Gespräche waren an allen Tischen, und Kellner nahmen Bestellungen auf und riefen sie Richtung Tresen … alles zugleich, alles drang ungefiltert in mein Gehör.
Ungefiltert, mit absoluter Präsenz.
Keine Fähigkeit mehr, etwas davon auszublenden.
Es gab in meiner Wahrnehmung nicht mehr das, was Hintergrundgeräusch genannt wird. Es gab nur noch eine riesige ungefilterte Geräuschkulisse, wie eine Lawine wälzte sie sich durch meine Gehörgänge, klirrend und schrill. Dazu, obendrein, das Gespräch das an meinem Tisch geführt wurde, und an dem ich krampfhaft versuchte teilzunehmen. Ich hörte es kaum, zu viel war das Drumherum.
Zu viel. Einfach zu viel.
Ich habe nicht auf meinen Körper gehört, in dem es geschrien hat: mir ist es hier zu laut, ich will raus! Ich habe diesen Körperschrei ignoriert. Mein Körper ist dann eigenständig der Situation entflohen, indem er mich in Ohnmacht hat fallen lassen.
Irgendwann in dieser Zeit ist mir im Buchhandel ein Buch über Tinnitus in die Hände gefallen. Darin wurde als Nebenerscheinung von Gehörproblemen die Hyperakusis genannt: das Krankheitsbild der übermäßigen Geräuschempfindlichkeit.
Keiner der fünf Ärzte, an die ich mich mit meinem Problem wandte, hatte es gekannt. Keiner der wenigen Freunde, denen ich mich anzuvertrauen versuchte, hatte nur einen Hauch von Verständnis. Alle sahen mich mit einem halb mitleidigen, halb spöttischen Blick an, als ob sie dächten: die spinnt, und redet sich ihre Symptome nur ein!
Ich fühlte mich wie eine Aussätzige.
Was blieb, zusammen mit den Erkenntnissen darüber, mein altes Leben nicht mehr führen zu wollen, war der Rückzug in die totale Stille.
Hier, in den Dünen, ist die Stille am intensivsten. Hier ist es so still, dass die Stille fast schon spürbar ist. So wie Sonnenenergie im Sommer in der Stadt durch ihr Abstrahlen von Häuserwänden spürbar ist, so ist Stille in den Dünen spürbar.
Fast greifbare Stille.