Dünenvagabunden. Katrin Maren Schulz
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„Ja“, antwortete ich, gar nicht wissend, worauf sich dieses Ja eigentlich bezog.
Ich wusste nur, dass etwas geschehen muss, ganz schnell, jetzt und hier auf dieser unausstehlichen Party, und binnen weniger Wochen in meinem Leben im Ganzen. Ich wusste, dass ich einen Impuls von außen dafür brauchte. Und ich sah in Kai genau den Menschen, der mir diesen Impuls geben könnte.
So war es auch: er nahm mich an der Hand, und führte mich am Rand dieser riesigen Terrasse an fast allen Menschen vorbei, vor allem an denen, die diese gefürchtete Frage fragen könnten, die ich so hasste:
„Wie, du gehst doch nicht etwa schon?“
Sie kam nicht, diese Frage, weil Kai sie mit mir im Schlepptau alle umschiffte: die anderen, mitsamt ihrer blöden Frage.
Als wir auf der Straße standen, ließ er meine Hand los, und ging schnurstracks Richtung Elbufer. Ich hinterher - was sollte ich sonst tun?
Es war noch dunkel, aber hinter uns, sehr tiefstehend noch, zeigte die Sonne ihren ersten feinen zartgelben Schimmer am Himmel. Bald würde sie über der Stadt erscheinen und einen neuen Tag werden lassen.
Wir waren inzwischen an der Hafenstraße angelangt, Kai steuerte die Landungsbrücken an. Auf einer Mauer saß eine Gruppe jugendlicher Partygänger, kreischend mit irgendwelchen trendigen Flachmännern anstoßend. Wir ließen sie und ihren Radau hinter uns.
Die Landungsbrücken schienen noch zu schlafen. Selbst die Möwen flogen noch nicht, sondern dösten auf Geländern und Relings der Ausflugsdampfer vor sich hin.
Auf einer Bank, hoch oben auf einer der Elb ufer-Plattformen, ließ Kai sich nieder. Aus seiner Jackentasche kamen zwei Flaschen Bier zum Vorschein, er muss sie gekauft haben, als er auf unserem Weg kurz in einem Kiosk verschwunden war. Er gab mir eine davon. Seit wir von der Party aufgebrochen waren, hatte er kein einziges Wort mehr zu mir gesagt. Jetzt, als er mir ein Bier gab, hatte ich zumindest wieder die Gewissheit, dass ich für ihn überhaupt noch existierte.
Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen beschienen unsere Gesichter von links, und tauchten das Elbwasser in Gelbgold. Es roch frisch und klar und rein.
„Hier hast du noch nie einen neuen Tag begrüßt, oder?“ war das erste, was Kai nach langem Schweigen zu mir sagte.
„Nein. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, jemals einen neuen Tag begrüßt zu haben. Erst recht nicht hier, an den Landungsbrücken, und schon gar nicht mit einem Bier in der Hand“, musste ich nach einigen Momenten des Suchens in meiner Vergangenheit gestehen.
„Einen neuen Tag zu begrüßen, ist, wie sein Leben zu begrüßen, mit all dem, was es einem zu bieten hat“, sinnierte Kai. „Ich begrüße jeden Tag bewusst.“
Es gab nichts mehr, was ich zu sagen gehabt hätte. Ich fühlte mich miserabel, ertappt, bloßgestellt als eine, die ihr Leben achtlos an sich vorüberziehen lässt. Mir war absolut klar, was Kai mir zeigen wollte mit diesem frühmorgendlichen Ausflug an die Landungsbrücken. Mit dem bloßen Dasein an diesem Ort zu dieser Zeit hat er mir das gezeigt, was er kurz zuvor auf der Party in seiner Frage, ob er mir ein anderes Leben zeigen solle, gemeint hatte.
In diesem Moment sah ich zum ersten Mal ein anderes Leben. Nein, ich sah es nicht wirklich. Ich bekam vielmehr eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen könnte. Was ich dafür tun musste, damit es sich dauerhaft so wertvoll anfühlen würde wie in diesem Moment, das war mir noch völlig unklar.
Inzwischen war die Sonne in ihrer vollendeten runden Fülle am Horizont erschienen, wie ein glühender Ball lag sie auf der Himmelskante. Wir sahen beide hin. Dann sah Kai mich an:
„Dein Leben allerdings steht nicht mehr im Sonnenaufgang. Willst du verbrennen im Zenit, oder aufblühen?“
Ziemlich harte Worte von so einem Endzwanziger in verbeulten Jeans an eine gestandene Karrierefrau. Aber ich wusste, dass dies genau die Frage war, die ich zu dieser Zeit für mein weiteres Leben brauchte. Er kramte einen verknitterten Zettel aus seiner Hosentasche, und einen Kugelschreiber, und schrieb mir seine Telefonnummer auf.
„Melde dich, wenn du dein Leben aufgeräumt hast.“
Ein leichtes, warmes Lächeln. Ein tiefer, fester Blick in die Augen. Dann stand er auf, hauchte eine Kusshand in die Luft und ging.
Der nächste Tag war der, an dem ich bemerkte, dass mir meine eigene Wohnungseinrichtung fremd war. Und an dem ich die Richtung meines Lebens entschieden änderte.
Bald ist das drei Jahre her. Ich lebe gerade tatsächlich bereits den dritten Winter in meiner zu kalten und eigentlich provisorischen Behausung.
Die Nixen haben mich eingestehen lassen, dass ich Angst vor Menschen habe. Eine Angst, die mich lähmt. Lähmt inmitten dieses vagabundierenden Lebens, das so unglaublich freiheitlich scheinen mag. Scheint. Angst vor anderen Menschen zu haben ist keine Freiheit - es ist ein Zustand, der lähmt, der befangen macht, der gefangen macht in der eigenen Isolation.
Es ist die Zeit der Raunächte, diese zwölf Tage, die so kurz sind, dass sie als Nächte bezeichnet werden, zwischen Heilig Abend und dem fünften Januar. In diesen Nächten schlafe ich kaum. Ich wache durch die Nacht, ich beobachte die Nacht, ich lausche in ihre Dunkelheit und Stille und höre ihr zu. Es ist diese Zeit, in der das Unterdrückte - das man nicht sehen will im eigenen Leben, was man nicht wahrhaben will, weil es zu ändern so mühevoll wäre, oder die Änderung zu schwer scheint - in der all dieses Unterdrückte herauskommt. Ob der Mensch will oder nicht: es äußert sich, sagt „Hallo, ich bin es, deine Baustelle, die du nicht sehen willst, an die du aber ran musst“.
Immerhin habe ich es geschafft, auf Marielou zuzugehen im letzten Sommer. Ich weiß nicht wohin es mich führen wird, dass ich sie nun kenne, und dass ich sie in mein Leben habe eintreten lassen. Aber ich weiß, dass ich mich darauf einlassen werde, mir anzuhören, was sie mir mitzugeben hat für mein weiteres Leben.
Manchmal wirkt sie so naiv, so gutgläubig, so schönredend. Dann mag ich sie schütteln und schreien „du redest dir dein Leben schön, dabei ist es doch eine Notlösung, ein Provisorium, ein goldener Käfig.“
Und wenn ich das denke, bleibt es mir im Halse stecken, denn ich merke: ist das mein eigenes Leben nicht auch? Eben kein goldener Käfig, sondern mit blätterndem, falschen Gold verzierte Freiheit?
Mir ist kalt in meinem zugigen Backhaus. Ich muss mich im kommenden Jahr um eine neue Unterkunft kümmern.
Mir ist kalt, so fast gänzlich ohne andere Menschen. Ich muss mich im nächsten Jahr um Freundschaften kümmern.
Mir ist einsam, solange ich mich nur der Stille öffne. Ich muss mich um die Heilung meiner Hyperakusis kümmern.
Ich weiß, wie es geht, das habe ich in dem Buch gelesen. Aber ich traue mich nicht. Der Weg heißt: langsame Wiedereingewöhnung in die Welt der Alltagsgeräusche. Aber das bedeutet, mich ihnen wieder auszuliefern. Ja, ich empfinde es als ein Mich-Ausliefern, das, was für andere einfach normaler Alltag ist.
Ich habe solche Angst davor.
Angst, es doch nicht zu ertragen, es doch nicht hören zu können. Gehen zu müssen, fliehen zu müssen. Es ist dann wie ein Zwang zur Flucht vor Geselligkeit und Miteinander und menschlichen Kontakten. Bevor mein Körper mich wieder dazu zwingt, meide ich sie lieber von