Die Namenlosen. Уилки Коллинз

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Die Namenlosen - Уилки Коллинз

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Sie wagte sich bis in die Nähe ihrer Schwester und berührte sie an der Schulter. Norah bewegte sich nicht. „Es kommt nicht oft vor, dass sie so in Rage gerät“, dachte Magdalen und berührte sie noch einmal, „aber wenn es geschieht, wie lange dauert es dann!“ – „Komm’“, sagte sie, „gib mir einen Kuss, Norah, und vertrag’ dich mit mir. Gibst du mir keinen Teil von dir außer der Rückseite deines Halses? Nun, es ist ein sehr hübscher Hals – er ist es mehr wert, geküsst zu werden, als meiner – und da ist der Kuss, trotz allem!“

      Sie umfasste Norah fest von hinten und ließ den Worten die Tat folgen, wobei sie alles überging, was gerade vorgefallen war. Ihre Schwester war weit davon entfernt, es ihr gleichzutun. Und doch hatte die warme Aufwallung in Norahs Herz vor nicht einer Minute alle Dämme durchbrochen. Hatte die eisige Zurückhaltung sie schon wieder erstarren lassen? Es war schwer zu sagen. Sie sprach kein Wort und änderte ihre Haltung nicht – nur suchte sie eilig nach ihrem Taschentuch. Als sie es hervorzog, war in den inneren Winkeln des Sträuchergartens das Geräusch näher kommender Schritte zu hören. Ein Scotchterrier huschte ins Blickfeld, und eine fröhliche Stimme sang die ersten Zeilen des Scherzliedes aus „Wie es euch gefällt“. „Das ist Papa“, rief Magdalen. „Komm, Norah – komm, wir gehen zu ihm.“

      Aber statt ihrer Schwester zu folgen, zog Norah den Schleier ihres Gartenhutes herunter, wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und eilte zurück zum Haus. Sie lief in ihr Zimmer, schloss sich ein und weinte bitterlich.

      Als Magdalen im Sträuchergarten auf ihren Vater traf, zeigte das Gesicht von Mr. Vanstone ganz deutlich, dass er sich über etwas gefreut hatte, nachdem er am Morgen aus dem Haus gegangen war. Die Frage, die seine Tochter in ihrer Neugier sofort an ihn richtete, beantwortete er mit dem Hinweis, er komme gerade von Mr. Clares Cottage; und an diesem wenig verheißungsvollen Ort habe er eine erstaunliche Neuigkeit für die Familie in Combe-Raven erfahren.

      Als Mr. Vanstone am Morgen das Studierzimmer des Philosophen betreten hatte, trödelte dieser immer noch mit seinem späten Frühstück herum, neben sich einen geöffneten Brief anstelle des Buches, das dort sonst während der Mahlzeiten griffbereit zu liegen pflegte. Als der Besucher sein Zimmer betrat, hielt er im nächsten Augenblick den Brief in die Höhe und eröffnete das Gespräch abrupt mit der Frage, ob mit Mr. Vanstones Nerven alles in Ordnung sei und ob er sich stark genug fühlte, um den Schock einer überwältigenden Überraschung zu ertragen.

      „Nerven!“, wiederholte Mr. Vanstone. „Gott sei Dank weiß ich nichts über meine Nerven. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, sofort heraus damit, Schock hin oder her.“

      Mr. Clare hielt den Brief noch ein wenig höher und sah seinen Besucher über den Frühstückstisch hinweg stirnrunzelnd an. „Was habe ich Ihnen immer gesagt?“, fragte er mit dem verdrießlichsten Ernst in Stimme und Benehmen.

      „Viel mehr als ich im Kopf behalten kann“, antwortete Mr. Vanstone.

      „In Ihrer Gegenwart und auch sonst“, fuhr Mr. Clare fort, „habe ich immer erklärt, welches das einzig wichtige Phänomen ist, das uns die moderne Gesellschaft bietet: das ungeheure Wohlergehen der Dummköpfe. Zeigen Sie mir einen einzigen Dummkopf, und ich zeige Ihnen eine versammelte Gesellschaft, die dieser hoch angesehenen Person neun von zehn Chancen gewährt – und dann dem klügsten Menschen, den es gibt, die zehnte missgönnt. Man kann schauen, wohin man will, in jeder hohen Position sitzt ein Esel behaglich so außerhalb jeder Reichweite, dass auch die klügsten Köpfe dieser Welt ihm nichts anhaben können. In unserem ganzen Gesellschaftssystem feiert die selbstzufriedene Beschränktheit fröhliche Urständ – löscht das suchende Licht der Intelligenz mit völliger Schamlosigkeit aus – und heult nach Art der Eulen angesichts jeglichen Protests: Seht doch, wie gut es uns allen im Dunkeln geht! Eines schönen Tages wird diese ganze dreiste Behauptung von den Tatsachen widerlegt werden, und dann bricht das verkommene System der modernen Gesellschaft mit einem Krachen zusammen!“

      „Gott behüte!“, rief Mr. Vanstone mit einem Blick, als sei der Zusammenbruch bereits da.

      „Mit einem Krachen!“, wiederholte Mr. Clare. „Das ist, in wenigen Worten, meine Theorie. Aber jetzt zu ihrer bemerkenswerten Anwendung, auf die dieser Brief schließen lässt. Da ist mein Rüpel von Sohn…“

      „Sie meinen, Frank bekommt noch einmal eine Chance?“, rief Mr. Vanstone aus.

      „Da ist dieser vollkommen hoffnungslose Einfaltspinsel Frank“, fuhr der Philosoph fort. „Er hat nie im Leben etwas getan, um sich selbst zu helfen, und als zwangsläufige Folge befindet sich die Gesellschaft in einer Verschwörung, die ihn zum Gipfel des Baumes tragen soll. Er hatte kaum Zeit, um die Chance wegzuwerfen, die Sie ihm gegeben haben, da kommt dieser Brief und legt ihm den Ball ein zweites Mal vor die Füße. Mein reicher Vetter (der intellektuell dazu geeignet wäre, am Hinterende der Familie zu stehen, und deshalb natürlich an ihrer Spitze steht) war so freundlich, sich meiner Existenz zu erinnern; und er hat angeboten, seinen Einfluss in den Dienst meines Ältesten zu stellen. Lesen Sie diesen Brief, und dann achten Sie auf die Abfolge der Ereignisse. Mein reicher Vetter ist ein Trottel, der von seinem Grundbesitz lebt; er hat etwas für einen anderen Trottel getan, der von Politik lebt und einen dritten Trottel kennt, der vom Handel lebt, und der kann etwas für einen vierten Trottel tun, der derzeit von gar nichts lebt und Frank heißt. So läuft die Mühle. Die Sahne aller Belohnungen wird in endloser Folge von den Dummköpfen aufgesogen. Ich werde Frank morgen wegschicken. Nach einiger Zeit wird er in unsere Hände zurückkehren wie ein falscher Schilling; weitere Chancen werden ihm in die Quere kommen, das ist die zwangsläufige Folge seiner verdienstvollen Beschränktheit. Die Jahre werden vergehen – ich erlebe es vielleicht nicht mehr, und Sie auch nicht, aber das macht nichts; Franks Zukunft ist so oder so gleichermaßen gesichert – schicken Sie ihn in die Armee, in die Kirche, in die Politik, oder wohin es Ihnen beliebt, und überlassen Sie ihn sich selbst: Am Ende ist er General, Bischof oder Staatsminister, alles kraft der modernen Befähigung, nichts zu tun, womit man sich die Stellung verdienen könnte.“ Mit dieser Zusammenfassung der irdischen Aussichten seines Sohnes warf Mr. Clare den Brief verächtlich quer über den Tisch und schenkte sich noch eine Tasse Tee ein.

      Mr. Vanstone las den Brief mit eifrigem Interesse und Vergnügen. Er war im Ton einer etwas bemühten Herzlichkeit verfasst; aber dass er Frank praktische Vorteile in Aussicht stellte, war nicht zu bezweifeln. Der Verfasser hatte die Mittel, um sich das Interesse eines Freundes – das kein Interesse der gewöhnlichen Art war – an einem großen Handelsunternehmen in der Stadt zunutze zu machen, und er hatte seinen Einfluss zu Gunsten von Mr. Clares ältestem Sohn geltend gemacht. Frank würde in dem Kontor in einer ganz anderen Stellung angenommen werden als ein gewöhnlicher Angestellter; man würde ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit „vorwärtstreiben“, und die erste „gute Sache“, die das Haus hier oder im Ausland zu bieten hatte, würde man ihm zur Verfügung stellen. Wenn er über ordentliche Fähigkeiten verfügte und die übliche Sorgfalt bei ihrer Entfaltung an den Tag legte, sei sein Glück gemacht; und je schneller man ihn nach London schickte, damit er anfangen könne, desto besser sei es für seine eigenen Interessen.

      „Das sind ja großartige Neuigkeiten!“, rief Mr. Vanstone, während er den Brief zurückgab. „Ich bin begeistert – ich muss zurück und es zu Hause erzählen. Das ist eine fünfzigmal bessere Chance als meine. Was zum Teufel meinen Sie mit der Misshandlung durch die Gesellschaft? Meiner Meinung nach hat sich die Gesellschaft ungewöhnlich gut verhalten. Wo ist Frank?“

      „Er versteckt sich“, sagte Mr. Clare. „Es ist eine der unerträglichen Eigenheiten von Rüpeln, dass sie sich immer verstecken. Ich habe meinen Rüpel heute Morgen noch nicht gesehen. Wenn Sie ihn irgendwo treffen, geben Sie ihm einen Tritt und sagen Sie ihm, dass er zu mir kommen soll.“

      Mr. Clares Meinung über die Gewohnheiten seines Sohnes hätte man, was die Form angeht, höflicher ausdrücken

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