Die Namenlosen. Уилки Коллинз
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„Norah!“
„Ja. Ich habe getan, was ich konnte, um Sie zu verschonen. Ich habe es Norah erzählt.“
Sie hatte es Norah erzählt! Der Mut dieses Mädchens hatte der entsetzlichen Notwendigkeit ins Auge geblickt, vor der eine Frau, die alt genug war, um ihre Mutter zu sein, zurückgeschreckt war. War das noch dasselbe Mädchen, das Miss Garth groß gezogen hatte? Das Mädchen, dessen Charakter sie ebenso gut zu kennen glaubte wie ihren eigenen?“
„Magdalen“, rief sie leidenschaftlich, „du machst mir Angst!“
Magdalen seufzte nur und wandte sich ermattet ab.
„Bitte denken Sie nicht schlechter von mir als ich es verdiene“, sagte sie. „Ich kann nicht weinen. Mein Herz ist taub.“
Langsam entfernte sie sich über die Wiese. Während die große schwarze Gestalt davonglitt, sah Miss Garth ihr nach, bis sie allein unter den Bäumen war. Solange Magdalen sich im Blickfeld befand, konnte sie an nichts anderes denken. In dem Augenblick, da sie verschwunden war, dachte sie an Norah. Zum ersten Mal in ihrer Erfahrung mit den Schwestern führte ihr Herz sie instinktiv zu der älteren der beiden.
Norah war noch in ihrem Zimmer. Sie saß auf der Couch am Fenster. Das alte Notenheft ihrer Mutter – das Andenken, das Mrs. Vanstone am Todestag ihres Mannes in dessen Studierzimmer gefunden hatte – lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß. Sie blickte mit so stiller Trauer davon auf und wies mit einer so bereitwilligen Freundlichkeit auf den freien Platz an ihrer Seite, dass Miss Garth im ersten Augenblick zweifelte, ob Magdalen die Wahrheit gesagt hatte. „Sehen Sie“ sagte Norah einfach und blätterte die erste Seite des Notenheftes auf, „da steht der Name meiner Mutter und auf der nächsten Seite ein paar Verse für meinen Vater. Wenigstens das können wir behalten, wenn uns auch sonst nichts bleibt.“ Sie legte den Arm um Miss Garth’ Hals, und ein schwacher Hauch von Farbe stahl sich auf ihre Wangen. „Ich sehe ängstliche Gedanken in Ihrem Gesicht“, flüsterte sie. „Haben Sie Angst um mich? Zweifeln Sie daran, dass ich es gehört habe? Ich habe die ganze Wahrheit erfahren. Vielleicht spüre ich sie bitter – später. Um es jetzt zu spüren, ist es noch zu früh. Haben Sie Magdalen gesehen? Sie ist hinausgegangen, um nach Ihnen zu suchen – wo haben Sie sich getrennt?“
„Im Garten. Ich konnte nicht mit ihr sprechen, ich konnte sie nicht ansehen. Magdalen hat mir Angst gemacht.“
Norah erhob sich hastig; erhob sich, verblüfft und bekümmert über Miss Garth’ Antwort.
„Denken Sie nicht schlecht von Magdalen“, sagte sie. „Magdalen leidet insgeheim mehr als ich. Versuchen Sie, sich nicht wegen der Dinge zu quälen, die Sie heute Vormittag über uns erfahren haben. Ist es von Bedeutung, wer wir sind und was wir haben oder verlieren? Welchen Verlust gibt es noch für uns nach dem Verlust von Vater und Mutter? Ach, Miss Garth, das ist das einzig Bittere! Was ist von ihnen in Erinnerung geblieben, als wir sie gestern ins Grab gelegt haben? Nichts als die Liebe, die sie uns gegeben haben – die Liebe, auf die wir nie wieder hoffen dürfen. Woran können wir uns heute sonst noch erinnern? Was kann die Welt, was können die grausamsten Gesetze der Welt in unserer Erinnerung an den gütigsten Vater verändern, an die gütigste Mutter, die Kinder jemals gehabt haben?“ Sie hielt inne, kämpfte mit ihrem aufsteigenden Kummer, hielt ihn still und entschlossen zurück. „Würden Sie hier warten, während ich gehe und Magdalen hole?“, fragte sie. „Magdalen war immer Ihr Liebling: Ich möchte, dass sie auch jetzt Ihr Liebling ist.“ Sie legte das Notenheft sanft auf Miss Garth’ Schoß und verließ das Zimmer.
„Magdalen war immer Ihr Liebling.“
So zärtlich sie diese Worte auch gesprochen hatte, in Miss Garth’ Ohren klangen sie vorwurfsvoll. Zum ersten Mal in der langen Gemeinschaft zwischen ihren Schülerinnen und ihr drängte sich ein Zweifel in ihren Geist, ob nicht sie und alle um sie herum im Verhältnis ihrer Wertschätzung für die Schwestern einen verhängnisvollen Fehler begangen hatten.
Zwölf Jahre lang hatte sie das Wesen ihrer beiden Schülerinnen im täglichen vertrauten Umgang studiert. Dieses Wesen, das sie in all seinen Tiefen ausgelotet zu haben glaubte, war plötzlich in der Qual der Bedrängnis auf die Probe gestellt worden. Wie waren die Schwestern aus der Prüfung hervorgegangen? So wie sie auf Grund ihrer früheren Erfahrungen vorbereitet war, sie zu sehen? Nein, genau im Gegenteil.
Was hatte ein solches Ergebnis zu sagen?
Als sie sich diese Frage stellte, kamen ihr Gedanken, die uns alle schon einmal aufgerüttelt und betrübt gemacht haben.
Gibt es in jedem Menschen hinter dem äußeren, sichtbaren Charakter, der durch die gesellschaftlichen Einflüsse aus seiner Umgebung geformt wird, eine innere, unsichtbare Veranlagung, die ein Teil unserer selbst ist und durch Erziehung vielleicht indirekt abgewandelt werden kann, ohne dass aber jemals die Hoffnung besteht, sie zu verändern? Ist die Philosophie, die dies verneint und erklärt, wir würden mit Veranlagungen geboren wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, in Wirklichkeit auch eine Philosophie, die nicht zur Kenntnis nimmt, dass wir nicht mit einem leeren Gesicht geboren werden – eine Philosophie, die niemals zwei erst wenige Tage alte Säuglinge verglichen hat, die nie beobachtet hat, dass diese Säuglinge nicht mit einem leeren Temperament geboren werden, das Mütter und Ammen nach Belieben füllen können? Gibt es in uns allen, unendlich schwankend in jedem Einzelnen, angeborene Kräfte des Guten und des Bösen, die tief unterhalb der Reichweite sterblicher Ermutigung und sterblicher Unterdrückung liegen – verborgenes Gutes und verborgenes Böses, beide gleichermaßen abhängig von der befreienden Gelegenheit und der ausreichenden Versuchung? Sind irdische Umstände innerhalb dieser irdischen Grenzen stets der Schlüssel? Und kann noch so viel menschliche Wachsamkeit uns vielleicht im Vorhinein nicht vor den Kräften warnen, die in uns eingeschlossen sind und die dieser Schlüssel freisetzen kann?
Zum ersten Mal stiegen solche Gedanken dunkel – als schattenhafte, entsetzliche Möglichkeiten – in Miss Garth’ Geist auf. Zum ersten Mal brachte sie diese Möglichkeiten mit dem früheren Benehmen und Charakter der verwaisten Schwestern in Verbindung, aber auch mit ihrem zukünftigen Leben und Schicksal.
Als sie in den beiden Charakteren suchte wie durch dunkles Glas, spürte sie, wie ihr Weg sie Zweifel für Zweifel von einer Möglichkeit zur anderen führte. Vielleicht war die äußere Oberfläche der Charaktere das Einzige, was sie bisher an Norah und Magdalen deutlich gesehen hatte. Vielleicht waren die reizlose Geheimnistuerei und Zurückhaltung der einen Schwester wie auch die höchst attraktive Offenheit und Ausgelassenheit der anderen mehr oder weniger auf jene körperlichen Ursachen zurückzuführen, die auf die Hervorbringung moralischer Ergebnisse hinarbeiten. Vielleicht verbargen sich unter der so geformten Oberfläche – einer Oberfläche, die bisher im glücklichen, behüteten, ereignislosen Leben der Schwestern durch nichts gestört worden war – Kräfte einer angeborenen, ererbten Veranlagung, die der Schock der ersten schweren Katastrophe ihres Lebens nunmehr in den Blick gerückt hatte. War es so? Schimmerte das Versprechen der Zukunft mit prophetischem Licht durch den oberflächlichen Schatten von Norahs Zurückhaltung, und verdunkelte es sich in prophetischer Düsternis unter dem oberflächlichen Glitzern von Magdalens sonnigem Gemüt? Wenn das Leben der älteren Schwester bisher dazu