KNIGGE: Über Eigennutz und Undank. Adolph Freiherr von Knigge
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Die Erziehung, die Pflege, die Sicherheit seiner Person
und seines Eigenthums, die ihm zu Theil geworden sind,
bevor er selbst das Geringste dazu mitgewürkt hatte,
haben ihn längst in Rückstand gesetzt und eine Schuld
auf ihn geladen, die er nur dadurch abtragen kann, daß er
wiederum so viel für Andre thut, als Andre schon für ihn
gethan haben.
18.
Es ist jedoch freylich gewiß, daß der, welcher für diese
Verpflichtungen keinen Sinn hat, den auch die Furcht vor
der Strafe, welche die conventionellen Gesetze auf
gewisse, der Gesellschaft schädliche Handlungen gelegt
haben, nicht abhält und endlich der, in dessen Herzen
religiöse Gefühle unwürksam sind, daß ein Solcher, Trotz
seiner Vernunft, unmoralisch handeln wird. Es ist eben
so gewiß, daß wer unfähig ist, von einem gewissen
Enthusiasmus für große, uneigennützige Thaten beseelt
zu werden, zu höhern Aufopferungen nicht fähig seyn
wird. Auch ist es nicht weniger ausgemacht, daß Fälle
eintreten, zum Beyspiel bey der Nothwehr, bey Diebstahl
aus drückendem Hunger, bey Noth-Lügen u.d. gl. wo das
Gefühl der Selbst-Erhaltung auch den vernünftigsten,
von der Heiligkeit seiner Pflichten überzeugten
Menschen, bewegen kann, eine That zu begehn, welche
gegen die Regeln der Ordnung des Ganzen ist; allein was
folgt hieraus? Was anders, als daß wir unvollkommne,
sinnliche Geschöpfe sind?
19.
Es ist aber leicht einzusehn, daß diese
Unvollkommenheit der menschlichen Natur sich bey den
Motiven zu moralischen Handlungen, die aus der
Nützlichkeit derselben hergenommen sind, nicht mehr
offenbahren werde, als bey denen, die aus so genannten
reinen Begriffen von Tugend und Pflicht sind abgezogen
worden. Im Gegentheil! wen weder Gewissenhaftigkeit,
noch Achtung für die bürgerlichen Gesetze, noch
religiöse Empfindungen bemeistern, der wird mir gradezu
die Aechtheit solcher reinen Begriffe abstreiten, und ich
werde kein Mittel haben, ihn zu überzeugen; da hingegen
aus der Nützlichkeit jeder Handlung Argumenta ad hominem
hergenommen werden können, die sich demonstriren
lassen und nicht abzuleugnen sind. Man sieht also, daß
dies ein weit sichrers, allgemeiner würksames Principium,
ein festeres System liefert, als jenes speculative, von der
Verschiedenheit der Vorstellungsarten eines Jeden
abhängige und veränderliche Grundgebäude.
20.
Man hat hie und da behauptet, der Grundsatz: daß man
seine moralischen Handlungen nur nach solchen Motiven
bestimmen müsse, die in allen Fällen als allgemeine
Gesetze gelten könnten, könne wenigstens theoretisch
zum Probiersteine jeder Handlung und jedes Bestrebens
dienen, wenn er auch nicht immer practisch auszuüben
wäre. Allein das heißt nichts gesagt; denn wenn es solche
Motive giebt; so müssen sie immer zur Richtschnur
dienen und immer practisch angewendet werden können.
Allein noch einmal! es giebt dergleichen allgemeine
Gesetze nicht und von den Bewegungsgründen eines
vernünftigen Wesens, dies oder jenes zu thun oder zu
unterlassen, läßt sich die Rücksicht auf den Zweck, das
heißt, auf das, was durch dies Thun oder Lassen bewürkt
werden soll, mit Einem Worte! was es nütze oder schade,
gar nicht trennen.
21.
Daß aber die ausschließliche Befolgung allgemeiner
Gesetze im practischen Leben unendlichen Schaden
stiften würde, ist leicht zu beweisen. Was würde aus der
würklichen Welt werden, wenn wir bey unsern
Handlungen nie den Umständen nachgeben, jene nicht
diesen anpassen wollten? Kann nicht in Einer
Staats-Verfassung, in Einem Himmelsstriche, in einem
Zeitalter, etwas zu sagen, oder zu thun, Verbrechen oder
Thorheit seyn, was in einem andern Clima, unter andern
Regierungen, zu andern Zeiten, für Tugend und Weisheit
nicht nur gilt, sondern auch dadurch würklich Tugend
und Weisheit wird, daß es am würksamsten die Harmonie
des Ganzen befördert? Ist es nicht der Klugheit gemäß,
und, um eine größere Summe des Guten zu bewürken,
des tugendhaften Mannes würdig, gewisser Vorurtheile
zu schonen, gewisse kleine Uebel zu dulden, denen man
mit aller Kraft widerstehn müßte, wenn man nur nach
allgemein gültigen Gesetzen handeln dürfte? Wie würde
es um den Krieg, wie um die Politik – zwey
unvermeidliche menschliche Uebel – aussehn? Kurz!