AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND. Erhard Schümmelfeder
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Читать онлайн книгу AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND - Erhard Schümmelfeder страница 3
Ich trat näher an ihn heran und ohrfeigte ihn. Er war sichtlich überrascht. Ich ohrfeigte ihn nochmals. Er rührte sich nicht vom Fleck. Im Augenwinkel sah ich meine Mitschüler, die aus sicherer Entfernung dieses kleine Exempel, das ich zu statuieren gedachte, beobachteten. Langsam, sehr langsam ließ Macuthee das Buch sinken, steckte ein Lesezeichen hinein und klappte es nachdenklich zu. Er hatte verstanden: Dies war kein Ort für höhere Literatur. Warum lief er nicht sogleich davon? - Ich holte aus, um ihm einen gezielten Fußtritt zu geben, aber er hielt meinen rechten Fuß mit der linken Hand fest, hob ihn in die Höhe, wobei ich das Gleichgewicht verlor und rückwärts in den See stürzte. Tropfnass kroch ich an Land, stellte mich auf die Beine und griff ihn mit den Händen an. Er schlug mir seine geballte Faust aufs linke Auge. Ich stürzte hart zu Boden, richtete mich wieder auf, verdutzt über das, was hier vorging. Es war unfassbar. Macuthee schlug mir seine beiden Fäuste in die Fresse, links, rechts, links, rechts, immer wieder, so dass ich für Augenblicke die Besinnung verlor. - »So«, rief er mir hinterher, als ich vor seinen Schlägen flüchtete, »das dürfte reichen!« Und er fügte hinzu: »Fürs erste!«
Als ich mit gebrochenem Nasenbein, geschwollenem Gesicht und verweinten Augen über die Schulwiese zum Hauptgebäude schlich, blickte ich in die fassungslosen Gesichter meiner Mitschüler, die nicht glauben wollten, was sie vor sich sahen: einen verprügelten Sultanssohn. »Wer lacht, wird hingerichtet!«, brüllte ich ihnen entgegen, und keiner von ihnen wagte es, die Miene zu verziehen. Totenstille herrschte, als ich auf mein Zimmer ging. Von meinem Fenster blickte ich hinunter auf den Schulhof und sah sie alle: Sie waren bis zum Zerplatzen gespannt; mit fest aufeinandergepressten Lippen standen sie da und starrten sich an; sie lachten lautlos durch die Augen, aus denen schadenfrohe Tränen herauskullerten und über ihre zitternden Nasenflügel und Wangen flossen. Auf eine hinterhältige Weise waren sie gemein zu mir. Konnten sie mich womöglich in Wahrheit nie ausstehen?
Ich wollte es Macuthee heimzahlen! Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn von den Sicherheitsbeamten festnehmen und einkerkern zu lassen, doch ließ ich von diesem Vorhaben ab und konzentrierte mich auf eine persönliche Rache von Mann zu Mann: Ich übte während der heißen Sommerferien, ließ mich von einem ägyptischen Boxmeister trainieren, der mich grün und blau prügelte und sich nach jedem Knockout flehentlich bei mir entschuldigte: »Erbarmen, Herr! Erbarmen!« Ich zeigte mich gnädig und befahl ihm, bei künftigen Kämpfen im Ring die seiner Stellung gemäße Demutshaltung einzunehmen. Fortan durfte er mir nur noch mit gesenktem Haupt gegenübertreten, doch konnte ich zu meinem Kummer gegen einen professionellen Kämpfer, ein atmendes, schwitzendes Bündel aus Muskeln, Sehnen und Knochen, nie und nimmer bestehen. Ich gab Anweisung, ihm den rechten Arm auf den Rücken zu binden, um durch eine Halbierung seiner physischen Überlegenheit die Chance für einen Sieg zu nutzen. Aber auch mit nur einem Arm schmetterte er mich brutal auf die Bretter. Erst als ich - der Verzweifelung nahe -, einen Baseballschläger zu Hilfe nahm, gelang es mir, eine halbwegs gute Figur während des Kampfes abzugeben. Mit einem letzten befreienden Rundschlag versetzte der Ägypter mir einen heftigen Stoss, wobei ich durch die Seile flog und mir den Ellenbogen an der Rückenlehne eines Zuschauerstuhles verstauchte. Mit schmerzgequältem Gesicht erhob ich mich, um auf wackligen Beinen das Endergebnis des Kampfes zu erfahren.
»Unentschieden!! Eindeutig!!! Unentschieden!!«, urteilten die drei unparteiischen Ringrichter einmütig.
Ich aber jagte diese Heuchler und Speichellecker zum Teufel, legte mich auf die Bahre, die man vorsorglich für den Ägypter bereitgestellt hatte, und ließ mich in meine Gemächer tragen. -
Ich hatte kläglich versagt. Immerhin, so sagte ich mir, war es mir gelungen, das Muskelbündel einmal durch einen wuchtigen Schlag auf den kahlen Schädel ins Wanken zu bringen, was mich davor bewahrte, mein angegriffenes Selbstbewusstsein vollends zu verlieren. Das Erbärmliche meiner von vornherein zum Scheitern verurteilten Kraftanstrengungen wurde mir allmählich bewusst. - Wenn es eine Möglichkeit gab, die empfangene Demütigung, den Stachel im Fleische, an Macuthee zurückzugeben, musste ich sie finden.
Neben seiner Muttersprache beherrschte der Fischersohn aus Mescana neun Fremdsprachen, ganz abgesehen von den Sprachen, die er voraussichtlich noch mühelos erlernen konnte. Auf einmal packte mich ein nie gekannter Ehrgeiz. Ich wollte es Macuthee gleichtun! Ich wollte ihm ebenbürtig, nein, ich wollte ihm überlegen sein! Zum ersten Male in meinem Leben widmete ich mich - zum Erstaunen meiner Eltern und Geschwister - vollständig meinen Schulbüchern und begann, das bereitliegende Wissen gierig zu verschlingen, wie ein trockener Schwamm das Wasser aufzusaugen pflegt. Ich blätterte in den verbotenen Büchern, ich las in den erlaubten Büchern, ich lernte planlos und ohne tieferes Interesse an den Dingen. Ich machte meine Lehrer verantwortlich, ließ sie von der Hofwache verprügeln, wenn mein überforderter Kopf sich weigerte, auch nur noch ein Fünkchen Wissensstoff aufzunehmen, das sich ledergebunden und abrufbereit vor mir auf dem Schreibtisch türmte. - Ich gab auf, denn es war aussichtslos, was ich zu erreichen versuchte.
Kurzerhand entzog ich nach den Ferien Macuthee die Erlaubnis, weiterhin das Internat der Besten zu besuchen und ließ ihn von Matcho Nolo, dem Minister für alles Mögliche, persönlich zur Ableistung eines einjährigen Pflichtjahres an die Fliegenfängerschule des Sultans von Salima einberufen. Das war, wie ich insgeheim erhoffte, ein demütigender Schachzug. Ich war fast überrascht, als Macuthee nicht floh, sondern seinen Dienst zur festgesetzten Zeit antrat.
Ursprünglich war die Königliche Fliegenfängerschule ausschließlich zur Belustigung meines Vaters gegründet worden, doch im Laufe der Zeit erwiesen sich die Fliegenfänger in ihren rotgoldenen Uniformen eine touristische Attraktion; außerdem übernahmen sie eine nützliche Aufgabe , wenn sie - zumindest im Palast - die lästige Fliegenplage während der Sommerzeit in erträglichen Grenzen hielten. Unter Anleitung der strengen Meisterfliegenfänger meines Vaters erwies Macuthee sich - wie nicht anders erwartet - als äußerst gelehriger Schüler, den man aufgrund seiner offensichtlich angeborenen Geschicklichkeit bald schon zur feierlichen Abschlussprüfung im Palast zuließ. Endlich war es soweit, als Macuthee am Tage der Prüfung, zusammen mit neun ängstlichen Fliegenfängerprüflingen den prunkvollen Festsaal des Palastes betrat, der übervoll war von Gästen aus aller Welt, die Vater, wie in jedem Jahr, zur Feier dieses Ereignisses geladen hatte. Der Fischersohn war der Letzte in der Reihe der zehn Prüflinge. Nur vier jungen Männern vor ihm gelang es, unter dem anspornenden Beifall des Publikums, die Prüfung gemäß den geltenden Regeln zu bestehen. Fünf unglückliche Versager wurden mit Fußtritten aus dem Palast gejagt. Ich lachte mir ins Fäustchen, als Macuthee an die Reihe kam, rasch vortrat und sich vor Vater auf den Boden warf, wie es der Tradition entsprach.
»Du kennst die Regeln?«, fragte mein Vater ihn, während er sich die linke Wange rieb, die ein ungeschickter Prüfling mit der Fliegenklappe gestreift hatte.
»Ich kenne die Regeln!«, rief Macuthee, ohne den Kopf von den blanken Steinfliesen zu heben.
Und für alle Gäste, denen die Details der Prüfung nicht geläufig waren, wiederholte der Sultan von Salima mit Gebieterstimme: »Zehn Fliegen in einer Minute!«
»Zehn Fliegen in einer Minute!« wiederholte Macuthee, doch fügte er gegen die geltende Regel hinzu: »Ich schaffe es in einer halben Minute!«
Murren, Raunen, Tuscheln erfüllten den Festsaal.
»Das will ich sehen!«, rief Vater aufgebracht und rutschte an den Rand seines goldenen Thrones. Er ließ sogar