AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND. Erhard Schümmelfeder
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Читать онлайн книгу AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND - Erhard Schümmelfeder страница 6
Macuthee feierte mit Delila Hochzeit. Eine lange Reihe mit Tischen, die sich durchs ganze Land - von der Meeresküste bis zu den staubigen Steinbrüchen Salimas - erstreckte, wurde aufgestellt und mit köstlichen Speisen und kühlenden Getränken beladen. Alle Einwohner unseres kleinen Reiches waren zur Hochzeitsfeier eingeladen. Eine grandiose Oper mit dem Titel Der Fliegenfänger von Salima wurde mit überwältigem Erfolg uraufgeführt. Lieder, Gedichte und Legenden über den Fischersohn aus Mescana gingen von Mund zu Mund ... Ich grämte mich vor Neid und Enttäuschung.
Als reformfreudiger Minister für alles Mögliche setzte Macuthee wesentliche Veränderungen durch, die sogar die mürrische Opposition im Lande mit Vater versöhnten. Auch die Schulreform stand auf dem Plan meines einstigen Klassenkameraden. Ich selbst war das erste Opfer dieser für mich unerwarteten Veränderungen. Das Recht des ersten Schlages wurde kurzerhand abgeschafft und durch das Recht auf Notwehr ersetzt. Damit war ich so gut wie vogelfrei. Es versetzte meinem gedemütigten Herzen einen weiteren schmerzvollen Stoss, als mein letztes Zeugnis vom Direktor des Internats gnadenlos storniert wurde. Das hätte er nicht tun dürfen. Ich dachte sogar daran, meinem Leben ein Ende zu setzen, nachdem ich die Aufnahmeprüfung an der Schule der Besten auch nach drei Anläufen nicht bestanden hatte, doch fasste ich neuen Mut und beschloss, mich in Abendkursen weiterzubilden, um wenigstens in den mittleren Staatsdienst zu gelangen. Alle meine Kraftanstrengungen erwiesen sich als vergeblich, denn mir fehlte das, was Vater treffend den »richtigen Biss« nannte. Als ich Vater bei einem Mittagsmahl dezent darauf hinwies, auch ich wäre gern Minister für alles Mögliche geworden, verschluckte er sich fast an einem Hähnchenknochen und sagte verständnislos nur: »Quatsch!«
Vom Leben und seinen harten, unmenschlichen Bedingungen ernüchtert, lungerte ich wochenlang im Palast herum, ohne Aussicht auf eine rosige Zukunft, die man mir einst an der Wiese prophezeit hatte. Ich war restlos überzeugt von meiner eigenen Unfähigkeit. Ich war am Ende... Am Strand von Salima legte ich mich in den warmen Sand und jammerte grämlich vor mich hin. Ich wartete auf die Flut, die sich mit schäumenden Wogen dem Ufer zu nähern begann. Zum Glück schlief ich ein, noch bevor die Wellen meinen gekrümmten Körper erreichten...
Ein metallisches Geräusch weckte mich. Ich lag in meinem Internatszimmer. Es war später Nachmittag. Wie lange hatte ich geschlafen? Benommen richtete ich mich auf und ging zum Fenster, dessen Gardine leicht im Winde schaukelte. Auf dem Schulhof sah ich meine Klassenkameraden, die sich beim Hufeisenwerfen vergnügten. Im Schatten des Mangobaumes am See saß Macuthee und las in einem Buch. Ich ging hinunter auf die Schulwiese und näherte mich langsam dem Fischersohn aus Mescana, der mir, obwohl wir nur wenige Worte seit seiner Ankunft miteinander gewechselt hatten, so vertraut war wie ein Bruder. Eine Fliege setzte sich auf meine rechte Hand. Ich schnippte mit den Fingern, um sie zu vertreiben. Macuthee blickte auf, als er mich näherkommen hörte, lächelte mich freundlich an. Auf diesem Platz unter dem Mangobaum, so erklärte ich ihm, hätte ich vor einiger Zeit gesessen und eine Apfelsine gegessen; dieser Platz sei ein herrlicher Ort zum Studieren. Macuthee sagte, für heute habe er genug gelesen, er würde jetzt viel lieber Entenwerfen üben. Er fragte mich, ob ich auch Lust dazu hätte. Ja, sagte ich. Er ließ das Buch sinken, schlug es zu und richtete sich auf. Wir sammelten ein paar flache Steine und warfen sie schräg über die glatte Fläche des glitzernden Sees. Wir verfolgten den Flug der Steine, die über das Wasser hüpften, und zählten laut mit, wie oft sie die Oberfläche berührten. Macuthee schaffte meistens neun, einmal sogar elf Sprünge. Mir gelangen oft fünfzig, zweimal sogar dreiundfünfzig hüpfende Sprünge. Im Entenwerfen war ich - seit ich denken konnte - unschlagbar und hoffte darauf, es auch noch eine lange Weile zu bleiben ...
MISTER MILLER IN AMERIKA
oder
DIE SCHÖNHEIT DER AUGENBLICKE
Zweimal im Jahr, wenn Mr. Miller mit eiligen Schritten und buchstäblich in letzter Minute seine Maschine für den Flug Frankfurt - New York erreichte, steckte in seiner Mantelinnentasche ein zur Papierkeule zusammengerolltes Magazin, das er unbemerkt im Menschengewühl am Flughafenkiosk - ohne es zu bezahlen - in seinen Besitz gebracht hatte. Diese Bagatelldelikte, wie er sie zu nennen pflegte, waren in der Tat die einzigen Tugendabweichungen, die ihm seine Reisen ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten bescherten. Bedrohlicher waren die sinkenden Verkaufszahlen, welche ihm sein New Yorker Verleger, John D. Irving, bei der Ankunft stets zu unterbreiten pflegte. - Ein neues Buch mit Geschichten war fällig; an dieser lebenswichtigen Notwendigkeit führte kein Weg vorbei. Aber woher nahm man nur all die zündenden Ideen und überzeugenden Pointen, wenn man nicht dann und wann dem tristen Alltag einen zufälligen Einfall stahl oder der Wirklichkeit eine Pointe bescherte?
Mr. Miller bemerkte kaum den Start der Maschine, die mit heulenden Motoren zum feuerroten Himmel aufstieg. Zu seiner Linken, auf der gegenüberliegenden Gangseite, saß ein sommersprossiger rothaariger Junge, der Mr. Miller aufmerksam in Augenschein nahm. Mr. Miller den Bengel mürrisch an und kniff ein Auge zu, dessen Lid sich weigerte, in seine ursprüngliche Stellung zurückzuklappen. Zu seiner Rechten hatte sich eine gewichtige Dame unbestimmbaren Alters in einer selbstgefälligen Weise breit gemacht. Ihr Hut, geschmückt von einem Vogelnest, wirkte anachronistisch.
Er entfaltete sein soeben erworbenes Magazin auf den Knien, überflog flüchtig die Rubriken Klatsch, Mode, Stricken, Kochen, Backen und gelangte mit einem Seufzer zum Kreuzworträtsel, das - wie immer - eine nützliche Übung vor einem kurzen Schläfchen war.
Spanischer Maler mit vier Buchstaben - - - - Mr. Miller gähnte. Der Banalität in Klatschmagazinen müssten gewisse behördliche Grenzen gesetzt werden, dachte er. Artig setzte er dennoch den vergoldeten Kugelschreiber aufs Papier, doch hinderte die schwere Hand der Vogelnest-Dame mit dem schilfgrünen Kostüm ihn am Schreiben.
»Sie gestatten doch ... Das ist meiner«, sagte sie und nahm das Schreibgerät mit einer besitzergreifenden Geste an sich. »Ein Erbstück«, fügte sie mit leisem Vorwurf hinzu und verstaute jenes in dem roten Lederetui, das sie in ihre Handtasche schob.
»Ich bitte um Vergebung, gnädige Frau. Ich war in Gedanken.«
Argwöhnisch räusperte sich die Dame und warf Mr. Miller einen missbilligenden Blick zu, der nicht nur ihm, sondern dem ganzen männlichen Geschlecht gelten mochte. Die gewichtige Dame konnte eine wiederauferstandene Gestalt aus einer seiner Geschichten sein - der fleischgewordene Entwurf der Rosi Oldfield aus Die Ermordung meiner Frau, von ihrem Mörder zynisch charakterisiert mit den Worten: »Rosi, auch Rosinante genannt - oder, um es mathematisch schlicht und exakt zu formulieren: Menge mal Breite mal Höhe.«
Der Rotschopf erfasste Mr. Millers Verdruss und blies die Wangen zu einem Ballongesicht auf. Mr. Miller nickte. In diesem Punkte bestand also zwischen ihnen völlige Übereinstimmung.
Der Flug über den Atlantik, versüßt durch das Bordmenü Nr. 3 (Hawai-Toast mit Tomatensalat), wäre gewiss ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen, hätte Mr. Millers Hand nicht zufällig in der Nähe der Tasche seiner Nachbarin gelegen, als diese, nach dem Verzehr der Menüs Nr. 11 und 12 (Rumpsteak, Reis + Kürbisravioli in Walnussbutter), plötzlich aus ihrem Schlaf erwachte, die Situation erfasste und die Tasche an ihre Brust riss.
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte sie scharf tadelnd.
»Oh, ich