Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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Endlich kommt der Bus und wir entkommen den wilden Ausführungen über den angeblichen Jahrhundertgeburtstag.
Im Bus suchen wir uns einen Platz und ich lehne mich müde tief in den Sitz.
Christiane ist auch erschöpft und stiert versunken vor sich hin.
Ich lege meine Stirn an die kalte Scheibe und starre auf die Felder und Wiesen, die an uns vorbeirauschen. Irgendwie ist mein Kopf leer und wie im Halbschlaf. Das habe ich öfters, wenn ich im Bus nach einem schweren Schultag einige Minuten zur Ruhe komme.
Ich schließe die Augen und gebe mich dem Rütteln des Busses hin, als plötzlich Schüsse fallen und heulende Töne und ein lauter Knall durch mein Innerstes toben. Ich sehe Männer, die im Dunkeln vor mir durch den Schlamm robben und erschrecke, als über uns immer wieder die Nacht sich hell erleuchtet, von einem Donnergrollen begleitet.
„Hey Caro! Was ist mit dir?“, Christiane schüttelt mich unsanft am Arm.
Ich schrecke hoch und sehe in zwei weit aufgerissene Augen.
„Ich dachte schon, du kriegst einen Herzanfall. Fängst hier voll an zu keuchen und zu wimmern. Manchmal bist du echt peinlich“, zischt meine Freundin aufgebracht.
Ich starre sie verwirrt an. Ich keuchend und wimmernd? Am helligten Tag im Schulbus? Das ist wirklich peinlich.
Christiane steht auf und ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Der Bus hält gerade an unserer Haltestelle. Schnell greife ich nach meiner Tasche und schiebe mich durch den Gang des Busses zum Ausgang, in den Gesichter prüfend, ob jemand meinen Anfall mitbekommen hat.
Aber keiner sieht mich schräg an und ich bin etwas beruhigt. Erst als wir den Bus verlassen haben und ich zufällig noch einmal aufsehe, überkommt mich das ungute Gefühl, dass alle mich anstarren. Und als der Bus an uns vorbeizieht, trifft es mich wie ein Schlag. Von der hintersten Sitzreihe starrt mich der Junge mit den schwarzen Augen und den dunklen Haaren an, dem ich vor unserer Schule begegnet war.
Erschrocken blicke ich dem Bus hinterher.
„Was ist nun schon wieder? Hast du einen Geist gesehen?“ Christiane ist wirklich genervt. „Der Friedhof ist dir wohl nicht bekommen?“
Um sie milde zu stimmen, denn ich will ihr auf keinen Fall etwas von dem Jungen sagen, antworte ich ihr mit einem gekonnten Augenaufschlag: „Ach Chrissi! Das ist doch Quatsch. Es ist alles in Ordnung.“
Sie schlägt mir freundschaftlich auf den Rücken und grinst. In dem Moment hält der dunkle Volvo ihrer Mutter neben uns und wir beschließen später zu telefonieren, weil Christiane mir noch nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie am Nachmittag noch wegdarf.
So gehe ich zu meinem Fahrrad und schließe das Schloss auf. Dabei merke ich erst, dass meine Hände zittern. Ist schon verrückt. Erst träume ich mitten im Schulbus, dass ich in einem Kriegsgebiet durch den Schlamm robbe und dann sitzt auch noch dieser Junge in meinem Bus. Und wie der mich ansah …
Tief in meinem Inneren flattert etwas aufgeregt hin und her, was sich nur schwer ignorieren lässt. Daher versuche ich es erst gar nicht.
Dieser Junge berührt mich irgendwie und weckt daher mein Interesse.
Am Abend, als ich mit meinen Eltern und Julian am Tisch sitze und Abendbrot esse, erkläre ich: „Wir nehmen jetzt in Geschichte den Zweiten Weltkrieg und Hitler durch.“
Ich habe von allem eigentlich gar keine Ahnung und hoffe, dies nicht mit diesem einen Satz schon zu verraten.
„Aha!“, meint mein Vater nur und Julian sieht mich seltsam an.
Ich ärgere mich, dass ich in Geschichte, als wir wirklich das Thema hatten, nicht besser aufgepasst habe.
Einige Zeit vertue ich mit brotschmieren, bis ich damit rausrücke, was ich eigentlich will. „Waren von unserer Familie eigentlich auch welche im Krieg dabei? Wir sollen nach Verwandten suchen, die in diesem Krieg verwundet wurden oder sogar starben."
Papa sieht Mama an und Mama Papa. „Muss das wieder sein?“, brummt sie und schüttelt den Kopf. Dann murmelt sie: „Naja … bestimmt.“
Einen Augenblick habe ich das Gefühl, meine Mutter will wieder einmal nicht über die Vergangenheit reden.
„Wer denn?“, frage ich nach und bemühe mich, nicht zu neugierig zu klingen. Ich will schließlich keinen Argwohn bei meinen Eltern schüren.
„Also, von meiner Seite gab es bestimmt welche. Mein Opa war, glaube ich, sogar etwas Höheres. General oder so“, sagt mein Vater und grinst, den nötigen Ernst beiseitelassend.
„Ja, ganz sicher.“ Meine Mutter lacht auf und stößt ihm in die Rippen. Dann legt sich ihre Stirn in Falten und denkt nach. „Braucht ihr denn wirklich auch die Namen und so?“, fragt sie resigniert.
Ich nicke und sehe sie mit nach Hilfe heischendem Blick an.
Unschlüssig, ob sie mir helfen soll, seufzt sie auf. Doch dann antwortet sie eine Spur zu leise, als dass man hätte glauben können, dass es sie eigentlich nicht berührt: „Naja, von meinem Onkel, … ähm… Vater, der Vater starb im Krieg. Also mein Opa. Mein richtiger Opa.“
Ich sehe sie verständnislos an und auch Julian und mein Vater vergessen zu essen.
Mein Vater wirft ein mürrisches: „Dein Opa starb im Krieg? So ein Quatsch! Ich habe ihn doch noch kennengelernt. In unserem ersten Jahr“, in die Runde.
„Ich weiß“, brummt Mama und sieht ihn böse an.
„Willst uns wohl verulken?“, brummt Papa zurück. „Das hilft Carolin auch nicht weiter. Da kann sie das auch mit meinem Opa als General schreiben.“
Mama wendet sich an mich und ignoriert meinen Vater. „Na, du weißt doch! Onkel Otto war doch mein ´biologischer´ Vater. Und dem sein Vater fiel im Krieg. Das war somit eigentlich mein richtiger Opa.“ Scheinbar wird ihr dieser Zusammenhang heute das erste Mal richtig bewusst.
„Dann ist Opa Willys Vater nicht der von Opa Otto“, bringt Julian das Ganze auf seine trockene Art auf den Punkt.
„Nein, Ottos Vater war ein junger Mann, der aus irgendeiner Hafenstadt stammend als Soldat in unsere Gegend kam und hier fiel“, antwortet Mama ihm.
Oh Mann! Gibt es in dieser Familie eigentlich irgendwelche normalen familiären Verwandtschaftsverhältnisse? Das ist der Hammer! Ich freue mich schon darauf, dass Christiane zu erzählen und es kribbelt mir jetzt schon in den Fingern, dieses Ereignis in unseren Familienstammbaum einzuzeichnen. Nur zu dumm, dass Christiane den Schreiblock mit unseren Aufzeichnungen und dem Stammbaum mit nach Hause genommen hat, weil wir blöderweise ihren genommen hatten.
Papa ärgert: „Also gibt es in deiner Familie keinen General?“, und Julian frotzelt: „Naja, wieder so ein Sodom und Gomorrha.“
„Wie alt war dieser Vater von Otto damals?“, frage ich nach kurzem Zögern.
Mama denkt angestrengt nach. „Keine Ahnung. Ich denke so um die Zwanzig. Papa war nur ein Jahr jünger als Otto und wurde 1945 geboren. Also muss Otto 1944 geboren