Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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Читать онлайн книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen страница 17
„War es wieder der Krieg oder diesmal die Verbrennung?“, fragt Julian und sieht mich seltsam an.
Vollkommen perplex starre ich zurück. „Woher weißt du …?“ Weiter komme ich nicht. Das Entsetzen schnürt mir immer noch die Kehle zu. Dennoch frage ich Julian, mehr zur Bestätigung meiner Befürchtungen: „Du weißt von meinen Träumen?“
Er nickt und sieht mich aufgebracht an. „Du hattest sie früher schon. Ach, ich weiß gar nicht, seit wann schon. Du konntest kaum Laufen, hast aber schon geträumt, als wäre alles Böse dieses Lebens hinter dir her. Du konntest gerade Mama und Papa sagen, da riefst du im Traum nachts nach Martin und schriest: Bomben … Bomben.“
Das kann nur ein Scherz sein und Julian verarscht mich. „Du spinnst! Das habe ich nicht!“
Doch seine Miene bleibt erschreckend ernst und er sieht mich so seltsam an, dass ich plötzlich Angst bekomme. „Warum weiß ich davon nichts mehr?“, raune ich.
„Du warst in Behandlung. Viele Jahre lang. Ich durfte mit dir kein Fernsehen gucken und keine Spiele spielen, die nicht absolut kleinkindgerecht waren. Wir schotteten dich von Nachrichten ab und von allem, was dich irgendwie erschrecken oder aufregen konnte. Die Ärzte meinten, dass du irgend so ein Syndrom hast, das dich alles, was du siehst oder hörst, nachts verstärkt erleben lässt. Aber dann kam Opa und sagte, dass dieser Martin ein Freund von Kurt, seinem Opa, gewesen war und im Krieg 1942 fiel.“ Julian sieht auf seine Hände, als habe er etwas verraten, was ihn selbst zutiefst irritiert.
„Was? Davon kann ich doch gar nichts wissen!“
„Genau“, antwortet er knapp und steht auf. „Und was träumtest du eben? War wieder Krieg? Du bist so heftig zusammengezuckt und hast um dich geschlagen.“
Ich spüre, dass vollends alle Farbe aus meinem Gesicht weicht. „Von Krieg und Bomben … und ich hörte mich jemanden rufen und sah einen jungen Mann, wie er starb.“
Julian nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. Seine Hand legt sich auf meine Schulter und er sieht mich eindringlich an. „Sag bloß Mama nichts davon. Die flippt aus! Mit dem, was sie dir heute schon alles erzählt hat, glaubt sie bestimmt, du wärst endgültig von diesem Trip geheilt. Da würde sie dieser Traum total schocken.“
Ich nicke und weiß doch nicht, ob ich mit der Angst vor einem weiteren solchen Traum überhaupt wieder schlafen kann. Denn dieser übertraf alles Bisherige.
„Was habe ich damals noch geträumt?“, frage ich Julian vorsichtig und sehe ihm sofort an, dass ich darauf keine Antwort erhalten werde.
„Frag nicht. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass du daran erinnert wirst. Vielleicht vergeht das Ganze dann von allein. Denn glaube mir, wenn dich wieder so ein Arzt umkrempelt, wie sie es damals getan haben, dann hast du nichts mehr zu lachen.“ Er scheint ernsthaft um mich besorgt zu sein. „Es reicht, wenn nur ich davon weiß.“
Mit den Worten steht er auf und geht zur Tür. Dort sieht er noch einmal zurück, als wolle er sich vergewissern, dass ich nicht gleich aus dem Fenster springe.
Ich habe plötzlich Angst, allein zu sein. Aber schließlich bin ich ein großes Mädchen und kann meinen Bruder nicht bitten, in mein Bett zu klettern und mich im Arm zu halten. So antworte ich nur kleinlaut: „Ist gut“, und lege mich wieder hin.
Die Tür geht leise zu und ich bin wieder allein. In meinem Kopf rotieren sofort wieder die Bilder von meinem Traum. Ich versuche sie mit aller Macht zu verdrängen und an etwas anderes zu denken. Aber das Geträumte drängt immer wieder erbarmungslos an die Oberfläche und ich suche schon fast verzweifelt nach etwas, das mich auf andere Gedanken bringt. Und dann sehe ich ihn vor mir. Seine dunklen Haare lugen unter einer schwarzen Kappe hervor und seine dunklen Augen sehen mich mit diesem unergründlichen Blick an. Der Junge, dem ich an der Schule das erste Mal begegnete und der heute in meinem Bus saß. Ich höre seine tiefe Stimme murmeln: „Hallo!“ und spüre in meinem Inneren eine seltsame Wärme, die mich zu durchfluten beginnt. Ich stelle ihn mir genau vor und versuche mich an alles zu erinnern. So konzentriert werde ich endlich ruhiger.
Erst als mich der Wecker weckt und ich aus einem traumlosen Schlaf emporsteige, weiß ich, dass ich doch irgendwann wieder eingeschlafen sein musste. Die Bilder des Albtraumes sind verblasst und nicht mehr so furchteinflößend. Martin und der Krieg scheinen mir plötzlich fremd und als das, was sie waren: nur ein Traum. Nur Julians Worte machen mir noch Angst, als sie sich in meinem Bewusstsein an die Oberfläche kämpfen. Hatte er mir einen Bären aufgebunden? Hatte ich als kleines Kind wirklich schon solche Träume gehabt und war von einem Seelenklempner wieder zurechtgerückt worden? Warum erinnere ich mich nicht daran?
Ich bin es gewohnt, seltsame Träume zu haben. Ich steige in ihnen in eine Welt hinab, die mich immer wieder in die Zeit von diesem Kurt versetzt. Ich sah mich schon über wunderbar farbenprächtige Basare gehen, in denen bunt gekleidete, verschleierte Frauen mir ihre Ware anboten. Ich betrat Häuser, die düster und unwirklich erschienen und von einem aromatischen Dunst durchdrungen waren. Dort gab es nur Männer, manche mit Turbanen auf dunklen Haaren, alle mit braun gebrannten Gesichtern und dunklen Augen. Ich fühlte mich so anders, als diese Menschen aus diesem Land und dennoch glaubte ich mich ihnen zugehörig.
In anderen Träumen sah ich mich in unserem Haus in Westrup. Ich stellte orientalische Mitbringsel auf eine alte Anrichte und stapelte Bücher in Regale. Viele Bücher … Unmengen von Büchern. Manche waren so alt, dass sie fast auseinanderfielen. Ich kletterte im Flur über Kisten, die beschriftet waren und studierte die Aufschriften. Eine besonders schwere Kiste schob ich in eine dunkle Ecke der Diele und verdeckte sie mit einem großen Tuch. Dann machte ich mich an die anderen und untersuchte ihren Inhalt … viele Male und lange Nächte hindurch.
Wieder andere Träume bescherten mir Familientreffen, die mich zum Teil im Nachhinein sehr erschreckten. Ich sah die Menschen um mich herum ganz genau und in allen Details und sprach sie mit Namen an: Marie … Werner … Josephine … Heinrich. Die alte Frau und den alten Mann am Tisch, denen ich in diesen Träumen besonders tiefe Gefühle entgegenbrachte, nannte ich sogar einmal Mutter und Vater.
„Möchtest du noch ein Stück von meiner Grützwurst? Die hast du doch früher so gemocht?“, hörte ich die alte Frau einmal sagen und antwortete ihr: „Danke Mutter, ich habe wirklich genug gegessen.“
Der alte Mann richtete in diesem Traum seine tiefe Stimme an mich: „Natürlich musst du dein Vaterland verteidigen. Dein Cousin Gerhard hat sich auch freiwillig gemeldet, obwohl er eine Frau und ein Kind hat. Glaubst du, dass seiner Frau gefällt, dass ihr Mann in den Krieg zog? Aber er ist nun mal ein Held unserer Tage.“
„Nein, Vater, das glaube ich nicht.“ Mein Blick glitt über den Tisch zu einer jungen Frau, die blass und kränklich wirkte. Auf dem Schoß saß ein blonder Bub.
Nach solchen Nächten war ich immer besonders durcheinander. Ich träumte von diesen Menschen, als wären sie meine Familie und das, obwohl es niemanden von ihnen in meinem Leben wirklich gibt.
Seit wir in dieses Haus gezogen waren, habe ich diese Träume oder ähnliche immer wieder geträumt. Ich glaube, auch schon vorher. Immer wieder spiegeln diese Träume ein Leben wider, das nichts mit meinem zu tun hat. Bei Tageslicht verdränge ich sie dann und stelle mich dem wirklichen Leben, und in dem gibt es seit kurzem einen neuen Aspekt, der mein Leben seltsam zu beeinflussen scheint - diesen Jungen.
Eine angenehme Wärme durchzieht mich, wenn ich an ihn denke und letzte Nacht half er mir sogar, die Schrecken des Albtraumes zu überwinden.
Wer