Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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Читать онлайн книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen страница 11
„Das ist wirklich das größte Arschloch, das es auf Erden gibt“, tobt sie. „Der hat mich nur ausgenutzt. Und ich dachte …“ Den Satz beendet sie nicht, und das ist auch nicht nötig. Ich weiß auch so, was in ihr vorgeht. Ihre Augen haben einen feuchten Schimmer, als sie mich wieder ansieht. Ich ahne, dass sie sich ernsthaft in Julian verliebt hat. „Ich hoffe, der kommt mir nie wieder unter die Augen“, faucht sie aufgebracht.
Sie bleibt noch eine Stunde, in der wir über die Bücher von Kurt Gräbler sprechen, aus denen ich erfuhr, dass der Alchemist seine Tochter mit einem Gebräu gefügig gemacht hatte, und dass dieses Mittel außerdem die folgenden Generationen immer wieder aneinanderbinden soll.
Christiane will nicht glauben, dass so etwas möglich ist und ich erläutere die seltsamen Konstellationen in unserer Familie und wie dadurch immer wieder Kinder entstanden. Etwas treibt mich regelrecht dazu, diesen Punkt mit Christiane zu durchleuchten und auch sie ist überrascht darüber, dass Julian, Tim, ich, meine Mutter, Tims Vater und sogar Tims Großmutter aus keiner normalen Zweierbeziehung entstanden sind, und keine Beziehung letztendlich gut ausging und aus Liebe hielt. Und sie ist es auch, die nachdenklich fragt: „Aber Tim? Wenn er von Julian ein Halbbruder ist, fällt er dann nicht auch in diese Art von Konstellation?“
Ich starre sie an und weiß nur zu gut, was sie meint. Aber dass sie es nun ausspricht, nimmt mir die Möglichkeit, weiterhin die Augen davor zu verschließen.
In dem Moment fliegt die Tür auf und eine Krankenschwester kommt mit meinem Mittagessen herein. Sie bittet Christiane freundlich, aber bestimmt, zu gehen. So komme ich um eine Antwort herum.
„Wenn ich kann, komme ich heute Nachmittag noch mal vorbei“, sagt sie und geht zur Tür. Ich nicke nur und hoffe, sie wird nicht gerade auftauchen, wenn Tim bei mir ist. Der bloße Gedanke an ihn erhöht meinen Herzschlag und lässt eine Hitzewelle durch meinen Körper fluten. Viel schlimmer noch als vor Julians Übergriff.
Aber da ist jetzt auch etwas in mir, das mich warnt. Tim und ich dürfen das Vermächtnis des Alchemisten nicht weiterführen. Auf keinen Fall.
Nach dem Essen, das ich zur Hälfte auf dem Teller lasse, lege ich mich zurück und versuche mein unruhiges Inneres etwas in Einklang zu bringen. Aber das scheint ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein. Nach dem heutigen Zusammentreffen mit Tim scheinen meine Sinne noch extremer auf ihn ausgerichtet zu sein und etwas in meinem Kopf will, dass ich mich endlich füge.
Als meine Tür aufgeht und die Schwester hereinkommt, um mein Tablett abzuholen, tue ich so, als würde ich schlafen. Als sie geht, blinzele ich auf ein breites, eng in einem Kittel steckendes Hinterteil und registriere froh, dass es eine andere Schwester ist als die, die gestern Marcel hinaus- und heute Christiane hereingebracht hatte.
Erneut geht die Tür auf und die richtige Krankenschwester kommt ins Zimmer. Sie sieht sofort, dass ich nicht schlafe und ich brauche somit auch nicht mehr so zu tun. Sie fragt freundlich, wie es mir geht und ob ich etwas brauche.
Ich sehe sie nur an. Was sie wohl von mir denkt?
„Das war nicht mein Freund, sondern ein Freund. Marcel ist mein Freund“, murmele ich und weiß gar nicht genau, warum ich das sage.
„Jaja. Wird wohl so sein“, antwortet sie nur und fragt noch Mal, ob sie mir noch etwas bringen soll. Ich schüttele nur den Kopf und sie geht.
Warum habe ich bei ihr betont, dass Marcel mein Freund ist? Ich sehne mich nach Tim und gegen ihn verblasst Marcel und seine Zuneigung. Umso länger ich hier herumliege und mich meinen Gefühlen hingeben kann, umso mehr rückt in den Hintergrund, dass Tim und ich nicht zusammen sein dürfen. Mittlerweile habe ich mir oft genug eingeredet, dass kein Gebräu der Welt in der Lage sein kann ganze Generationen in ihrem Liebesdrang zu manipulieren. Das mit Tim und mir ist etwas anderes. Ich kann es kaum abwarten, bis er endlich kommt. Die Zeit bis dahin vergeht gar nicht und ich fühle mich wie eine Fresssüchtige auf Nulldiät.
So liege ich da und starre auf das Fenster, hinter dem der schönste Sonnenschein die Welt in goldenes Licht hüllt. Immer wieder überrollen mich die Gedanken und wollen erneut alles analysieren.
Ich fühle mich schlecht, wenn ich gerade die rosarote Brille beiseitelege. Mir wird dann schnell klar, dass ich Marcel auf gar keinen Fall am Nachmittag sagen kann, was ich für Tim empfinde. Aber ich muss es tun. Das steht fest. Es ist ihm gegenüber nicht fair. Auch wenn es ihm das Herz brechen wird.
Als wolle mich etwas eines Besseren belehren, sehe ich Marcels Gesicht vor mir, wie er auf meiner Bettkante hockte, tieftraurig und völlig am Ende, weil er glaubte, ich würde seine Gefühle niemals erwidern und wie sich eine Träne durch seine langen, dunklen Augenwimpern einen einsamen Weg über seine Wange gebahnt hatte.
Verdammt, was soll ich nur tun? Ich weiß, ich kann Marcel das nicht antun. Und als wolle etwas diesen Umstand auch wirklich in meinen Kopf brennen, drängt in mir eine Frage erbarmungslos an die Oberfläche. Was, wenn ich Tim gar nicht wirklich liebe, sondern alles doch nur irgend so ein alchemistischer Hokuspokus ist? Was, wenn ich Marcel todtraurig sich selbst überlasse? Erneut! Was, wenn ich feststelle, dass Tim ein Fehler war und ich wegen ihm die Zuneigung von Marcel verliere? Dieser Marcus war auch ein Fehler für meine Mutter … und auch für Tims Mutter. Vielleicht war Otto auch für meine Oma ein Fehler gewesen und sie hatte nur Glück gehabt, es vor meinem Opa geheim halten zu können.
Mir wird klar, dass ich Marcel zu sehr mag, als dass ich ihm das antun möchte … antun kann, und ich ihn nicht verlieren will. Er hat alles für mich getan und zeigt seine Gefühle zu mir so offen, ohne mir jedoch gleich die Kleider vom Körper zu reißen.
Ich sehe mich außerstande, jetzt schon eine Entscheidung gegen ihn zu treffen. Ich muss einfach abwarten, was die Zukunft bringt und für wen ich mich letztendlich entscheide. Einen anderen Ausweg gibt es nicht.
Mich auf die andere Seite wälzend, denke ich an Christiane und bin froh, dass wir uns wieder als Freundinnen annähern konnten. Julian hatte unsere Freundschaft fast zerstört. Dass er Christiane so manipulierte, macht mich fassungslos … und alles nur wegen diesem Scheiß Alchemisten in unserer Familie.
Mir wird mit einem Mal bewusst, dass ich in den letzten Nächten gar keine Träume mehr von Kurt Gräbler gehabt hatte. Den letzten schrecklichen Albtraum hatte ich in der Nacht, als ich bei Marcel war. Und dieser Traum schickte mich direkt in seine Arme. Ich fühlte mich bei ihm wohl und geborgen. Er soll es eigentlich für mich sein. Bei ihm bin ich auf der sichereren Seite.
Aber Tim drängt sich mit einer Urgewalt in meinen Kopf und in mein Herz und lässt die Gefühle erneut aufleben, die er in mir entfacht hatte. Der Gedanken an Marcel und die Nacht in seinen Armen zerfließt dabei zu einem Nichts.
Ich schüttele unsicher den Kopf. Das, was ich bei Tim fühle, muss mehr sein als nur der Fluch eines hirnverbrannten Vorfahren. Es ist so stark und alles überspielend und erneut spüre ich eine Sehnsucht nach ihm in mir hochschwappen. Ich kann mich diesem Gefühl nur ergeben.
Es klopft leise und erneut geht die Tür auf. Meine Eltern kommen herein und beide wirken wie die Büßer, die man zum Schafott schleift.
„Carolin! Wie geht es dir heute?“, ruft Mama schon von der Tür her und versucht ihrer Stimme eine Portion Enthusiasmus beizumischen.
Die fehlen mir noch. Ich hatte ganz vergessen, dass sie heute auch noch kommen wollten. Oh Mann!
„Hallo Carolin“, sagt