Nostromo. Joseph Conrad
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Nostromo - Joseph Conrad страница 9
In ganz jungen Jahren war er von einem Handelsschiff nach La Plata entlaufen, um in der Marine von Montevideo Dienst zu nehmen, die damals unter dem Oberbefehl Garibaldis stand. Später hatte er in der italienischen Legion der Republik im Kampfe gegen die drückende Tyrannei Rosas auf weiten Ebenen, an den Ufern ungeheurer Ströme, an den vielleicht wildesten Gefechten teilgenommen, die die Welt je gesehen hatte. Er hatte unter Männern gelebt, die ewig über die Freiheit redeten, für die Freiheit litten, für die Freiheit starben, in verzweifelter Überspannung, die Augen dem unterdrückten Italien zugewandt. Seine eigene Begeisterung hatte sich an Metzeleien erhitzt, an den Beispielen schrankenloser Hingabe, an heißem Kampfgetümmel, an der flammenden Sprache der Aufrufe. Nie hatte er sich von dem Führer seiner Wahl getrennt – dem feurigen Apostel der Unabhängigkeit – und sich in Amerika wie in Italien an seiner Seite gehalten, bis nach dem Unglückstag von Aspromonte, als sich die Verräterei der Könige, Kaiser und Minister vor der Welt in der Verwundung und Gefangennahme seines Helden enthüllt hatte; – eine Katastrophe, die ihn mit dem brütenden Zweifel erfüllt hatte, ob er je imstande sein würde, die Wege der göttlichen Gerechtigkeit zu verstehen.
Immerhin aber leugnete er sie nicht. Es brauchte Geduld, pflegte er zu sagen. Obwohl er die Priester durchaus nicht liebte und um keinen Preis den Fuß in die Kirche gesetzt hätte, glaubte er doch an Gott. Sprachen nicht die Aufrufe gegen die Tyrannei zum Volke im Namen Gottes und der Freiheit? »Gott für die Männer, die Religionen für die Frauen«, murmelte er. In Sizilien hatte ihm ein Engländer, der nach der Räumung der Stadt durch die königlichen Truppen in Palermo aufgetaucht war, eine Bibel in italienischer Sprache geschenkt – in der Ausgabe der British and Foreign Bible Society –, in dunkles Leder gebunden. In den Pausen zwischen den politischen Kämpfen, in den Pausen des Schweigens, wenn die Rebellen keine Aufrufe erließen, brachte sich Giorgio mit der erstbesten Arbeit fort, die ihm unter die Hände kam – als Matrose, als Dockarbeiter auf den Kais von Genua, einmal als Landarbeiter auf einem Bauernhofe in den Hügeln oberhalb Spezias –, und in seiner freien Zeit studierte er das dicke Buch. Er trug es mit sich in die Schlachten. Jetzt war es seine einzige Lektüre, und um sie sich nicht rauben zu lassen (der Druck war klein), hatte er sich entschlossen, ein paar silbergefaßte Brillen als Geschenk von Señora Emilia Gould anzunehmen, der Gattin des Engländers, der die Silbermine in den Bergen, drei Meilen oberhalb der Stadt, leitete. Sie war die einzige englische Dame in Sulaco.
Giorgio schätzte die Engländer sehr. Dieses Gefühl, auf den Schlachtfeldern von Uruguay geboren, war mindestens vierzig Jahre alt. Viele von ihnen hatten ihr Blut für die Sache der Freiheit in Amerika vergossen, und an den ersten, den er je gekannt hatte, erinnerte er sich nur unter dem Namen Samuel; der hatte eine Negerkompanie unter Garibaldi befehligt, während der berühmten Belagerung von Montevideo, und war heldenhaft mit seinen Negern beim Überschreiten der Boyana gefallen. Er, Giorgio, hatte es bis zum Fähnrich – Alferez – gebracht und für den General gekocht.
Später, in Italien, war er mit dem Rang eines Leutnants im Gefolge mitgeritten und hatte immer noch für den General gekocht. Er hatte für ihn in der Lombardei während des ganzen Feldzuges gekocht. Auf dem ganzen Marsch nach Rom hatte er sich die Rinder in der Campagna nach amerikanischer Art mit dem Lasso eingefangen. Er war bei der Verteidigung der römischen Republik verwundet worden, war einer der vier Flüchtlinge gewesen, die mit dem General den leblosen Körper der Gattin des Generals aus den Wäldern in das Bauernhaus getragen hatten, wo sie starb, aufgebraucht von den Härten des furchtbaren Rückzugs. Er hatte diese grauenvolle Zeit überlebt, um seinem General in Palermo zu dienen, als die Neapolitaner Granaten aus dem Kastell auf die Stadt niederkrachten. Er hatte für ihn auf dem Schlachtfeld von Volturno gekocht, nachdem er den ganzen Tag gekämpft hatte – und überall hatte er Engländer in den ersten Reihen der Freiheitsarmee gesehen. Ihre Gräfinnen und Prinzessinnen hatten in London des Generals Hände geküßt, hieß es. Er glaubte es gerne; denn die Nation war edelmütig, und der Mann ein Heiliger. Man brauchte nur einmal in sein Gesicht zu sehen, um die göttliche Macht des Glaubens in ihm zu erkennen und sein großes Mitleid für alles in dieser Welt, was arm, leidend und bedrückt war.
Der Geist des Selbstvergessens, die schlichte Hingabe an eine allumfassende Menschlichkeit, die das Denken und Wirken jener Revolutionszeit beseelten, hatten ihre Spuren in Giorgio zurückgelassen, in einer Art erhabener Verachtung für alle persönlichen Vorteile. Dieser Mann, den die niedersten Schichten von Sulaco im Verdacht hatten, einen Schatz unter dem Küchenboden vergraben zu haben, hatte sein ganzes Leben lang das Geld verachtet. Die Führer seiner Jugend hatten arm gelebt, waren arm gestorben. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, an kein Morgen zu denken; das rührte zum Teil von seinem Leben in steter Aufregung her, voll Abenteuer und wilder Kämpfe. In der Hauptsache aber war es eine grundsätzliche Einstellung und hatte nichts zu tun mit der Sorglosigkeit des Kondottiere; es war ein Puritanismus der Lebensführung, aus reiner Begeisterung geboren, wie der religiöse Puritanismus.
Diese völlige Hingabe an eine Sache hatte einen Schatten über Giorgios alte Tage geworfen; einen Schatten, denn die Sache schien verloren. Zuviel Könige und Kaiser lebten noch in der Welt, die Gott dem Volke zugedacht hatte. Der alte Giorgio in seiner Herzenseinfalt trauerte. Obwohl immer bereit, seinen Landsleuten zu helfen, und hochgeachtet von den italienischen Auswanderern, wo immer er auch lebte (in seiner Verbannung, nannte er es), konnte er sich doch nicht verhehlen, daß sie sich keinen Deut um die Pein der niedergetretenen Völker kümmerten. Sie hörten willig seinen Kriegsgeschichten zu, schienen sich aber zu fragen, was er denn schließlich von alledem gehabt habe. Es war nichts da, was sie sehen konnten. »Wir verlangten nichts, wir litten um die Liebe für die ganze Menschheit!« schrie er manchmal wütend, und die mächtige Stimme, die blitzenden Augen, die fliegende, weiße Mähne, die braune, sehnige Hand, die aufwärts wies, als wollte sie den Himmel zum Zeugen anrufen, verfehlten ihren Eindruck auf die Hörer nicht. Nachdem der alte Mann jäh verstummt war, mit einem Kopfschütteln und einer Armbewegung, die deutlich genug sagte: »Doch welchen Wert sollte es haben, euch davon zu erzählen?« – nickten sie einander zu. In dem alten Giorgio steckte eine Gefühlsstärke, eine persönliche Überzeugungskraft, etwas, das sie »terribilità« nannten. »Ein alter Löwe«, pflegten sie von ihm zu sagen. Ein kleiner Zwischenfall, ein Zufallswort konnten ihn dazu bringen, den italienischen Fischern an der Küste von Maldonado eine Rede zu halten oder in einem kleinen Laden, den er später in Valparaiso hielt, den Landsleuten unter seinen Kunden; oder plötzlich einmal, abends, im Café am einen Ende der Casa Viola (das andere war den englischen Ingenieuren vorbehalten), der ausgesuchten Clientèle aus Maschinenführern und Eisenbahnvorarbeitern.
Mit ihren schönen, bronzefarbenen, schmalen Gesichtern, glänzend schwarzen Locken, glitzernden Augen, mit Barten über der breiten Brust, manchmal mit einem schmalen Goldring im Ohrläppchen, hörte die Aristokratie des Bahnbaus dem Alten zu und ließ die Karten und das Domino im Stich. Da und dort studierte ein blondhaariger Baske seine Karten und wartete ohne Widerrede. Kein Eingeborner von Costaguana drang dort ein. Es war die italienische Hochburg; sogar die Schutzleute von Sulaco, auf Nachtpatrouille, ließen ihre Pferde langsam vorbeigehen und bogen sich in den Sätteln vor, um durch das Fenster einen Blick auf die in Rauchwolken schwimmenden Köpfe zu werfen; und das Dröhnen der wuchtig erzählenden Stimme des alten Giorgio schien sich hinter ihnen in der Ebene zu verlieren. Nur ab und zu tauchte der Assistent des Polizeipräsidenten auf, irgendein dunkelhäutiger, kleiner Herr mit breitem Gesicht und einem gut Teil Indianerblut. Der ließ dann wohl den begleitenden Schutzmann mit den Pferden vor der Türe, trat mit einem vertraulichen, schlauen Lächeln ein und ging ohne ein Wort bis zu dem langen Schenktisch. Dort zeigte er auf eine der Flaschen im Regal; der alte Giorgio klemmte sich die Pfeife zwischen die Zähne und bediente ihn eigenhändig. Außer dem leisen Klingeln der Sporen war nichts zu hören. Hatte er sein Glas geleert, dann warf der