Nostromo. Joseph Conrad

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Nostromo - Joseph Conrad

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er sich zu seiner Frau nieder und flüsterte ihr, die Augen scharf auf die verrammelte Tür geheftet, ins Ohr, daß auch Nostromo machtlos sein müßte, zu helfen. Was könnten zwei Männer, in einem Haus eingeschlossen, gegen zwanzig oder noch mehr tun, die sich anschickten, Feuer an das Dach zu legen? Giambattista denke die ganze Zeit über an die Casa, dessen sei er sicher.

      »Er, an die Casa denken, er!« keuchte Signora Viola wie irr. Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust: »Ich kenne ihn. Er denkt an niemand als an sich selbst.«

      Eine Gewehrsalve in nächster Nähe ließ sie den Kopf zurückwerfen und die Augen schließen. Der alte Giorgio biß unter seinem weißen Schnurrbart die Zähne hart aufeinander, und seine Augen begannen wild zu rollen. Ein paar Kugeln schlugen gleichzeitig in die Hausmauer; man hörte draußen den Verputz in großen Stücken niederfallen; eine Stimme kreischte: »Da kommen sie!«, und nach einem Augenblick lastender Stille gab es ein Trampeln eiliger Füße längs der Vorderfront.

      Dann ließ die Spannung in des alten Giorgio Haltung nach, und ein Lächeln voll Geringschätzung und Erlösung trat auf die Lippen seines kriegerischen alten Löwengesichtes. Dies war kein Volk, das für Gerechtigkeit kämpfte, sondern ein Haufe von Dieben. Sogar sein Leben gegen sie zu verteidigen war eine Entwürdigung für einen Mann, der einer von Garibaldis Unsterblichen Tausend bei der Eroberung von Sizilien gewesen war. Giorgio fühlte unendliche Verachtung für diesen Aufruhr von Schuften und Leperos, die den Sinn des Wortes »Freiheit« nicht kannten. Er setzte sein altes Gewehr ab, wandte den Kopf und sah nach der farbigen Lithographie von Garibaldi hinüber, die in schwarzem Rahmen an der weißen Wand hing; ein greller Sonnenstreifen schnitt sie der Länge nach durch. Seine Augen, an das Zwielicht gewöhnt, unterschieden die grelle Gesichtsfarbe, das Rot des Hemdes, die Umrisse der breiten Schultern, den schwarzen Fleck des Bersaglierihutes, den der Hahnenfederbusch umwehte. Ein unsterblicher Held! Er bedeutete die Freiheit; Freiheit, die nicht nur Leben, sondern auch Unsterblichkeit schenkte!

      Seine Begeisterung für diesen Mann hatte keine Veränderung erfahren. Im Augenblick, da ihm die Erlösung aus der vielleicht größten Gefahr, der seine Familie auf all ihren Wanderungen ausgesetzt gewesen, zum Bewußtsein gekommen war, hatte er sich dem Bild seines alten Führers zugewandt, zuerst und allein, und dann erst die Hand auf seines Weibes Schultern gelegt.

      Die Kinder, die auf dem Boden knieten, hatten sich nicht gerührt. Signora Teresa öffnete die Augen ein wenig, als hätte er sie aus einem sehr tiefen, traumlosen Schlaf geweckt. Bevor er noch Zeit fand, in seiner überlegten Art ein tröstliches Wort zu sagen, sprang sie auf, während die Kinder noch, eines an jeder Seite, sich an sie klammerten, schnappte nach Luft und stieß einen heiseren Schrei aus.

      Gleichzeitig wurde ein scharfer Schlag gegen die Außenseite des Fensterladens geführt. Sie konnten plötzlich das Schnauben eines Pferdes hören, das Scharren unruhiger Hufe auf dem schmalen Pflasterweg vor dem Hause; eine Stiefelspitze stieß nochmals gegen den Fensterladen, ein Sporn klirrte bei jedem Stoß, und eine aufgeregte Stimme schrie: »Holla, holla, ihr da drinnen!«

      4

      Den ganzen Morgen über hatte Nostromo von weitem ein Auge auf die Casa Viola gehabt, sogar während des heißesten Getümmels um das Zollamt. »Wenn ich dort drüben Rauch aufsteigen sehe«, hatte er sich gesagt, »dann sind sie verloren.« – Sobald die Menge sich zur Flucht gewandt, hatte er sich mit einer kleinen Abteilung italienischer Arbeiter in Richtung auf das Haus aufgemacht, das ja wirklich auf dem kürzesten Wege nach der Stadt lag. Der versprengte Haufe, dem er auf den Fersen war, schien sich hinter dem Haus nochmals festsetzen zu wollen; eine Salve, die seine Leute hinter einer Aloehecke hervor abgaben, brachte das Gesindel auf den Trab: in einer Lücke, die in die Hecke für die Zweiglinie der Bahn nach dem Hafen geschlagen war, tauchte Nostromo auf seiner silbergrauen Stute auf. Er brüllte, sandte den Fliehenden einen Schuß aus seinem Revolver nach und sprengte an das Fenster des Cafes hin. Er hatte es im Gefühl, daß der alte Giorgio in diesem Teil des Hauses Zuflucht gesucht haben würde.

      Seine Stimme hatte der Familie im Hause atemlos hastig geklungen. »Hallo! Vecchio! Oh, Vecchio! Ist alles wohl bei euch da drin?«

      »Du siehst...«, murmelte der alte Viola seiner Frau zu.

      Die Signora Teresa war nun still. Draußen lachte Nostromo.

      »Ich kann hören, daß die Padrona nicht tot ist.«

      »Du hast dein Bestes getan, um mich durch die Angst umzubringen«, rief Signora TereSa. Sie wollte noch mehr sagen, doch die Stimme brach ihr.

      Linda erhob kurz die Augen zu ihr, der alte Giorgio aber rief entschuldigend:

      »Sie ist ein bißchen aufgeregt.«

      Von draußen brüllte Nostromo wieder lachend zurück:

      »Mich kann sie nicht aufregen!«

      Signora Teresa fand ihre Stimme wieder:

      »Es ist so, wie ich sage. Du hast kein Herz – und du hast kein Gewissen, Giambattista...«

      Sie hörte, wie er draußen sein Pferd herumwarf; die Leute, die er anführte, schwatzten aufgeregt, italienisch und spanisch, und machten einander Mut zur Verfolgung. Er setzte sich an ihre Spitze mit dem Ruf: »Avanti!«

      »Er hat sich nicht lange mit uns aufgehalten. Hier ist kein Lob von Fremden zu verdienen«, meinte Signora Teresa tragisch. »Avanti! Jawohl! Das ist alles, worum er sich kümmert. Irgendwo der erste zu sein – irgendwie – der erste bei diesen Engländern. Sie werden ihn jedermann zeigen: ›Das ist unser Nostromo!‹« Sie lachte verächtlich. »Was für ein Name! Was ist das? Nostromo? Er würde von ihnen einen Namen annehmen, der gar kein Wort mehr ist.«

      Inzwischen hatte Giorgio mit ruhigen Bewegungen die Türe freigemacht; das grelle Licht fiel auf Signora Teresa, eine malerische Frau, die in aufgeregter Mütterlichkeit ihre beiden Töchter umschlungen hielt. Hinter ihr leuchtete die Wand blendend weiß, und die grellen Farben der Garibaldi-Lithographie verblaßten im Sonnenschein.

      Der alte Viola an der Türe reckte den Arm empor, als wollte er all seine einander jagenden Gedanken dem Bild seines alten Führers an der Wand befehlen. Sogar wenn er für die »Signori Inglesi« kochte – für die Ingenieure (er war ein ausgezeichneter Koch, obwohl die Küche sehr finster war), selbst dann fühlte er sich sozusagen unter dem Auge des Großen, der in einem glorreichen Kampf sein Führer gewesen war, in einem Kampfe, der unter den Mauern von Gaeta den Todesstoß für die Tyrannei bedeutet hätte, wäre nicht die verfluchte piemontesische Rasse von Königen und Ministern gewesen. Wenn mitunter eine Bratpfanne während einer heiklen Operation mit ein paar Zwiebelschnitzeln Feuer fing und man den alten Mann rücklings in einer Wolke ätzenden Rauchs aus der Türe kommen sah, fluchend und hustend, dann konnte man den Namen Cavours, des an Könige und Tyrannen verkauften Erzschurken, gemengt hören mit Verwünschungen gegen die Chinesenmädchen, das Kochen im allgemeinen und das viehische Land, in dem er aus reiner Liebe zur Freiheit, die jener Schurke erdrosselt hatte, zu leben gezwungen war.

      Dann kam wohl Signora Teresa, ganz in Schwarz, aus einer ändern Türe, näherte sich würdig besorgt, neigte ihr schönes, dunkelhaariges Haupt, öffnete die Arme und klagte in tiefen Tönen:

      »Giorgio! Du unbesonnener Mann! Misericordia divina! So bloß in der Sonne! Er wird sich den Tod holen!«

      Unter ihren Füßen stoben die Hennen mit langen Schritten in alle Richtungen auseinander; wenn gerade ein paar Ingenieure von der Strecke in Sulaco waren, dann erschien wohl das eine oder andere junge Engländergesicht in der Türe des Billardzimmers, das am einen Ende des Hauses lag. Am anderen

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