Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
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Читать онлайн книгу Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon страница 31
Etwas unsicher vernahm sie die Stimme ihrer Mutter durch´s Telefon: „Wie meinst du das denn, du brauchst andere Luft? Kind, ich kann dir nicht folgen! Andere Luft heilt doch keinen Krebs!“ Tilda versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen: „Naja, niemand weiß, warum ich diesen Krebs bekommen habe. Vielleicht ist hier irgendein Gift in meiner Umgebung. Was weiß ich denn? Sag du mir doch, woher ich diese Krankheit habe!“ Statt einer Antwort kam nur Schluchzen vom anderen Ende der Leitung. Tilda hatte genug von dieser Depression, die sich wie ein schwarzer Schleier über ihre gesamte Familie gelegt hatte. Schließlich war sie noch nicht tot und wenn sie noch nicht tot war, dann gab es noch Hoffnung.
Aber hin und wieder überkam sie selbst Panik beim Gedanken an den Ausnahmezustand, in dem sie sich befand. Alles in ihrem Leben stand mit einem Mal in Frage. Normalerweise war es so, dass die Eltern vor ihren Kindern starben. Jetzt würde es vielleicht umgekehrt sein. Seit sie an dieser schrecklichen Krankheit litt, die mit dem Fortbestand ihres Lebens unvereinbar war, schienen alle ihr diese Tatsache unablässig deutlich machen zu wollen. So, als ob sie das nicht selbst längst verstanden hätte. Diese Tatsache erzeugte ein unbeschreibliches Vakuum in ihr. Ein Vakuum, das sie immer mehr zusammendrückte und das ihr die Luft zum Atmen nahm. Unter Tränen wiederholte ihre Mutter noch einmal, sie möge doch in Hamburg bleiben, „da man doch schließlich nicht wisse, was kommen würde“.
Tilda spürte, wie ihre Angst sich immer mehr in Aggression verwandelte. Eigenartigerweise war das ein befreiendes Gefühl. Entschlossen stand sie von dem Stuhl im Arbeitszimmer auf, auf dem sie gesessen hatte. „Mam? Ich bin noch nicht tot. Hörst Du? Das kannst du auch Paps sagen. Ich bin noch nicht tot! Und wenn man noch nicht tot ist, dann kann man noch was machen. Mir wird schon irgendwas einfallen. Ich weiß nicht was, aber mir ist bisher immer was eingefallen. Was ich weiß ist, dass ich dringend raus muss aus Hamburg, sonst sterbe ich tatsächlich noch!“ Und mit fester Stimme fügte sie hinzu: „Und ihr beiden seid auch nicht gerade hilfreich für mich! Den Vorwurf müsst ihr euch schon gefallen lassen.“ Sie beendete wütend das Gespräch, indem sie das Telefon auf die Ladestation warf. Neugierig steckte Ludwig den Kopf zur Tür herein. Wahrscheinlich hoffte er insgeheim, Tilda hätte eine Kehrtwende vollzogen. Stattdessen giftete sie ihn an: „Und du? Du kannst auch verschwinden! Ihr seid alle so furchtbar selbstgerecht! Ihr wisst alles besser! Wer ist denn hier eigentlich krank? Nein, du wirst schon nicht sterben, Ludwig! Jetzt guck´ mich nicht so komisch an. Ich kann´s nicht mehr sehen und ich kann´s auch nicht mehr hören. Ich bin froh, wenn ich hier weg bin! Ihr seid doch alle irre! Ihr bringt mich wirklich noch um mit eurem Gerede!“
Voller Wut rauschte sie aus dem Zimmer, nahm eine ihrer Jacken von der Garderobe im Flur und schlug die Tür hinter sich zu, die daraufhin krachend ins Schloss flog. Sie hatte in diesem Moment keine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Sie wollte nur weg von Ludwig, raus aus der gemeinsamen Wohnung, raus aus dem Stress. Ziellos lief sie durch die Stadt. Es war inzwischen dunkel geworden. Manche Geschäfte waren noch geöffnet und aus den Schaufenstern floss das Licht golden auf den Bürgersteig. Überall waren Menschen. Es tat Tilda gut, so ganz anonym unter ihnen zu sein. Niemand kannte sie, niemand wusste etwas von ihr. Sie war plötzlich wieder ein ganz normaler Mensch unter vielen anderen ganz normalen Menschen in dieser Stadt. Tilda fühlte sich wie befreit und atmete tief durch. Es war kühl geworden. Die frische Luft füllte ihre Lungen mit Sauerstoff und beruhigte ihre angespannten Nerven. Niemals hätte sie gedacht, wie glücklich sie frische Luft machen konnte.
Sie dachte darüber nach, dass jeder Mensch in seinem Leben immer etwas ganz Besonderes sein wollte. Bis vor kurzem wollte sie das auch. Aber nach allem, was ihr in den letzten Tagen passiert war, mochte sie noch nicht einmal mehr daran denken. Sie wollte einfach nur noch ganz normal sein, vollkommen unauffällig. Sie wollte normale Dinge tun, ein ganz normales Leben haben und vor allem eine ganz normale Gesundheit. War das denn unnormal? War das zu viel verlangt? Gedankenschwer lief sie die hell erleuchtete Straße entlang und unter all den Menschen hatte sie das Gefühl, einzutauchen in diese anonyme Gemeinschaft, von ihr getragen zu werden und einfach nur wie Conny der Korken in der Mitte auf dem reißenden Fluss zu schwimmen. Conny schien alles richtig gemacht zu haben. Conny war fidel, fröhlich, gesund und schlagfertig, obwohl sie so ein furchtbares Schicksal hinter sich hatte. Conny! Umständlich fischte Tilda ihr Handy aus der Jackentasche. Zwanzig Minuten später saßen die beiden Frauen in einem gemütlich erleuchteten Kaffee und tranken gemeinsam ein Glas Wein auf die Zukunft. „Kopf hoch!“ sagte Conny und lächelte ermutigend. „Die anderen in deiner Familie haben doch alle nur Angst. Sie wollen nichts falsch machen. Sie sind wie gelähmt. Versuch´ sie ein bisschen zu verstehen!“ Tilda wollte es ja versuchen. Aber wer verstand sie?
Am darauffolgenden Montag, nachdem sie gerade ihre Flüge gebucht hatte, klingelte das Telefon. Es war die onkologische Ambulanz des Krankenhauses. Dr. Schnitzer selbst, der Onkologe, wollte sie sprechen und scheute offensichtlich keine Mühen, ihr noch einmal zu erklären, dass eine Chemotherapie zwar nur ein Angebot an den Patienten sei, aber dass er ihr unter den gegebenen Umständen dringend dazu raten müsste. Tilda schwieg im ersten Moment irritiert. Sie war verwundert, dass die Fürsorge des Krankenhauses sogar so weit ging, den abtrünnigen Patienten per Telefon zu Hause ins Gewissen zu reden. Gleichzeitig wuchs ihr Misstrauen. Dr. Schnitzer empfahl ihr dringend, noch einmal über ihre Entscheidung nachzudenken? Wieso war ihre Entscheidung denen im Krankenhaus so wichtig? Tilda blieb einsilbig am Telefon. Ihr Blick glitt über die Flugtickets nach Phoenix/Arizona, die ausgedruckt auf dem Tisch vor ihr lagen. Die wahren Beweggründe von Dr. Schnitzer waren ihr eigentlich egal. Er machte lediglich seine Arbeit und er würde sie mit seinem Gift- Cocktail auch nicht vor dem Tode retten können. Er hatte die Mehrzahl der anderen vor ihr ja auch nicht retten können. Was also sollte sein Anruf bei ihr bewirken? Er hatte ihr nichts vorgeschlagen, was eine wirkliche Chance in sich trug. Tilda wollte keinen Streit mit ihm. Sie wollte nur, dass er sie in Ruhe ließ. Und sie wollte nicht sterben, sich nicht kampflos ergeben und sie wollte auch keine Morphium-Tröpfe. Sie beendete das Gespräch.
Nachdenklich beobachtete sie die blau-weiß gestreifte Markise, die draußen auf dem Balkon im Frühlingswind flatterte und die Sonne, die goldene Streifen auf die Scheiben der großen Terrassentür warf. Waren Krankenhäuser nicht auch nur Firmen, die Gewinne erwirtschafteten mussten, um sich selbst zu erhalten? Wie war es da eigentlich um die Ehrlichkeit bei den Behandlungs- Angeboten bestellt? Wie neutral konnte so eine Klinik beraten, wenn eine Therapie -zigtausend Euro kostete und ein Teil davon als Gewinn blieb? Wie viele Krebspatienten brauchte eine Klinik im Jahr, um ihren Status als Therapiezentrum aufrecht zu erhalten? Wenn der Arzt seinen Patienten hinterher telefonierte und ihn zu etwas überreden wollte, dann war das nach Tildas Empfinden schon sehr merkwürdig. Es war ihr unheimlich. Egal welche Beweggründe Dr. Schnitzer in Wahrheit hatte. Sie würde nichts tun, was sie später vielleicht bereuen würde.
In diesem Durcheinander von Ratlosigkeit und Hoffnung, zwischen Hilflosigkeit, Übelkeit, Schwäche und Einsamkeit war Tilda eines jedoch nach diesem Abend mit Conny ganz klar geworden: Sie wollte unter allen Umständen der Korken sein. Sie wollte auf dem reißenden Fluss des Lebens in der Mitte und an der Oberfläche bleiben. Sie wollte weiter schwimmen, weiter, immer weiter. Sie wollte nicht vor der Zeit zugrunde gehen.
Was sie wollte war ihre Reise nach Amerika. Sie wollte zu ihrer Schwester, zu ihrem Schwager Sam und zu den Kindern. Sie hatte zwar noch überhaupt keinen Plan, wie sie das anstellen sollte, aber sie würde dort schon etwas finden, was sie am Leben hielt. Irgendetwas würde ihr schon einfallen. Es war notwendig, also war es möglich. Tilda war sich sicher, dass sie nichts mehr brauchte, als innere Einkehr, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Obwohl sie sich in höchstem Maße verunsichert fühlte, war sie doch zum gleichen Zeitpunkt auch voller innerer Zuversicht, dass sie es schaffen würde. Sie würde nicht sterben! Genau das war es,