Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
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Und wenn sie nun tatsächlich nur noch vier Monate oder sogar weniger zu leben hatte, wie es die Prognose der Ärzte für sie aussagte? Dann würde es Mitte oder Ende September sein. Im September würde demnach alles, was noch von ihr übrig blieb, in eine kleine Urne passen. Sie stand da wie erstarrt. Sollte das etwa ihr Leben gewesen sein? Sollte das alles gewesen sein? Es war eine Vorstellung, die Tilda die Tränen in die Augen trieb. Unter dem Wasserregen der Dusche war das bedeutungslos. Und letzten Endes: Ein Menschenleben mehr oder weniger auf dieser Welt, wen kümmerte das schon wirklich. Das fiel doch gar nicht auf. Für ihre Eltern würde es sicher furchtbar sein. Natürlich! Aber immerhin hätten sie dann noch Doro. Und Doro war am Leben! Noch dazu hatten sie durch Doro auch drei Enkelkinder, die sie liebten. Wenn der Herbst kam, dann würde sie vielleicht tatsächlich gehen müssen. Vielleicht auch schon vorher. Wer konnte das sagen? Jetzt, wo Tilda diesen Umstand realistisch betrachtete, was ihr wirklich schwer fiel, war ihr eines klar: Ihre prognostizierte Lebenserwartung, die sie jetzt noch hatte, traf doch nur auf sie zu, wenn sie die empfohlene Therapie machte. Nur für diesen Fall konnten die Mediziner in der Klinik eine Prognose stellen. Fast alle Patienten mit ihrer Diagnose hatten die übliche Therapie gemacht. Manche aus Überzeugung, mache aus Angst und manche aus Verzweiflung. Aber immer war es dieselbe Voraussetzung, die da in die Statistik einfloss. Eine Therapie, die die Patienten von vornherein aller weiteren Chancen beraubte, weil sie das Immunsystem zerstörte oder zumindest so stark beschädigte, dass es selbst mit der Hilfe anderer, geeigneter Maßnahmen meist keine Heilung mehr gab. Es war eine Sackgasse in die alle sehenden Auges hineinrannten, bis sie dort unweigerlich zugrunde gingen. Es schien tatsächlich kaum jemanden zu geben, der sich wiedersetzte.
Tilda war bisher leider nichts wirklich Brauchbares als Alternative eingefallen. Zu wenige Menschen schienen sich dafür zu interessieren. Und wenn sie es doch taten, dann stellten sie ihre Erfahrungen der Allgemeinheit offenbar nicht zur Verfügung. Während immer noch das heiße Wasser aus der Dusche auf ihre Haut prasselte und Tilda versuchte, das zu genießen, starrte sie mit leeren Augen vor sich hin.
Beim Abtrocknen fühlte sie sich schwindelig und schwach. Der Tag hatte an ihren Nerven gezerrt. Sie setzte ich auf den Hocker aus hellem Holz, der im Badezimmer gleich neben dem großen Waschtisch stand. Die Anstrengungen forderten jetzt ihren Tribut. Tilda war trotzdem nicht unzufrieden. Auch wenn es einigen nicht passte, was sie tat. Sie hatte vieles erreicht und einiges entschieden an diesem Freitag. Das war alles in allem viel mehr, als sie in der Kürze der Zeit für möglich gehalten hatte. Jetzt war es Abend und sie hatte keinen Portkatheter, sie hatte mit Ludwig und mit ihren Eltern Klartext gesprochen und sie würde in Kürze zu Doro und ihrer Familie nach Arizona fliegen. Bei allem Schrecklichen, das in ihrem Leben gerade passierte, gab es auch Grund zur Freude. Tilda war zufrieden. Alles in allem war es doch ein guter Tag für sie gewesen.
Spät am Abend schrieb Tilda Conny noch eine Nachricht. „Hi Conny, habe mir keinen Port setzen lassen. Mache keine Chemo. Fliege nächste Woche nach Arizona zu meiner Schwester. Grüß alle in der Schule von mir. Melde mich! Alles wird gut. Tilda“ Die Antwort kam augenblicklich: „Hi meine Süße, Du machst alles richtig. Ich bin auf Deiner Seite, habe aber große Angst um Dich. Du machst das schon. Du bist ein großes Mädchen! Ja, alles wird gut. Liebe Grüße, Conny“. Tilda fühlte sich erleichtert. Zumindest eine Freundin hatte sie, die ihr nichts auszureden versuchte und die ihr keine Vorhaltungen machte, obwohl sie selbst auch Angst hatte. Sie zögerte einen Moment. Dann schrieb sie Conny: „Ich habe auch große Angst.“, und schickte die Nachricht ab. Die Antwort von Conny kam genauso schnell, wie beim ersten Mal: „Ich weiß.“ Tilda stiegen wieder die Tränen in die Augen. Sie wusste schon, was sie an Conny hatte. Aber dieses stille Einvernehmen erfüllte sie trotz der Umstände mit großer Freude und Erleichterung. Es gab zum Glück Menschen in ihrem Leben, mit denen sie nicht alle Dinge lang und breit diskutieren, sie hin und her wälzen und sich rechtfertigen musste. Trotzdem war alles klar. Conny war schon immer ein ganz besonderer Mensch für sie gewesen, nicht nur wegen ihrer schrillen Outfits. Sie kannte sie jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Dabei war diese Ewigkeit realistisch betrachtet noch gar nicht so lang. Sie betrug nur ganze fünf Jahre.
Tilda erinnerte sich jetzt an Connys langes, braunes Haar. Das war ihr damals zu allererst aufgefallen, als sie sie zum ersten Mal im Lehrerzimmer gesehen hatte. Und an ihr fröhliches, entspanntes Lachen. Und daran, dass sie mit ihrer Größe alle anderen Kolleginnen überragte. Als sie sich zum ersten Mal die Hand gegeben hatten und Tilda wegen Connys Größe ein wenig zu ihr aufschauen musste, hatte Conny grinsend gesagt: „Jetzt fragen sie mich aber bloß nicht, wie die Luft hier oben ist! Der alte Witz ist öde.“ Tilda hatte gelacht und einfach nur: „Nö!“ gesagt. Das Eis war gebrochen und dank Conny hatte Tilda sich viel schneller in ihren Arbeitsalltag als Lehrerin hineingefunden. Conny hatte ihr damals einiges erspart und sie in aller Freundschaft auch vor dem einen oder anderen Kollegen gewarnt. Das, was sie selbst an Erfahrungen gemacht hatte, stellte sie Tilda einfach so zur Verfügung. Als Begründung für dieses Verhalten hatte sie damals nur kurz gesagt: „Ich denke, wenn einer damit angeeckt ist, dann reicht´s! Und ich bin schon.“
Conny war immer so lustig und unbeschwert, obwohl sie es in ihrem Leben bisher nicht leicht gehabt hatte. Eigentlich hatte sie eine ganz dramatische Geschichte hinter sich, von der sie sich glücklicherweise nicht hatte unterkriegen lassen. Der Mann, den sie geliebt hatte, war vor über fünf Jahren auf schreckliche Art und Weise bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Das war auf der Fahrt nach Hause passiert, in die gemeinsame Wohnung, die die beiden erst eine Woche zuvor bezogen hatten. Er war am späten Abend mit seinem Auto aus unerklärlicher Ursache frontal gegen einen Baum gefahren. Der Unfallhergang konnte nie abschließend geklärt werden. Er war auf der Stelle totgewesen. Seitdem hatte Conny keinen anderen Mann mehr angesehen. Sie sagte immer, dass ihr Herz noch nicht wieder frei sei für eine neue Liebe. So war Jahr um Jahr vergangen. Dabei gab es genug Männer, die sich für Conny interessierten. Sie hatte aber keinen Blick für die Bewerber. „Es dauert so lange wie es dauert. Und vielleicht geht es ja nie vorbei. Wer weiß.“, pflegte Conny ihren eigenwilligen Standpunkt dann immer klar zu machen.
Das war typisch für sie. Sie ließ sich nie unter Druck setzen. Es war diese Eigenschaft, die Tilda schon immer am meisten an ihr bewundert hatte. Das traf auch auf ihren Umgang mit Schülern und Kollegen zu und überhaupt auf alles, was in ihrem Leben so stattfand. Der Grundsatz, sich nicht erpressen zu lassen, machte ihr Leben auf eine gewisse Art und Weise viel leichter und unkomplizierter. Das war wohl auch der Hauptgrund dafür, warum sie im Gegensatz zu anderen Menschen viel entspannter durch ihr Leben schipperte. Sie sagte von sich immer, sie sei der Korken in der Mitte eines Flusses. Immer sicher, immer gemütlich, immer ohne die geringste Gefahr des Unterganges oder die Angst, vom rechten Wege abzukommen. Conny war der Ansicht, dass jeder Mensch in seinem Leben möglichst bald lernen sollte, „richtig gut nein“ zu sagen. Denn durch den Schlingerkurs, den viele Zeitgenossen fuhren und der daraus resultierte, dass sie ihre Meinung nicht von Anfang an ehrlich kundtaten, machten sie sich selbst nur Schwierigkeiten. Tilda hatte von ihr gelernt, dass es tatsächlich oft besser war, erst einmal „nein“ zu sagen. Zum Beispiel dann, wenn man nicht ganz sicher war. Später war es problemlos, eventuell doch noch einzulenken. Es war in der Tat kein Problem, dieses Nein später in ein Ja zu verwandeln. Das Gegenteil war viel komplizierter. Erst einmal zuzustimmen und dann später doch abzulehnen war fast unmöglich, ohne sich unbeliebt zu machen.
Conny nannte diesen Vorgang: „Für die anderen zum Arsch werden“. Sie benutzte diese Formulierung oft und gern und lachte jedes Mal darüber. Eine Freundin wie Conny zu haben war für Tilda ein beruhigendes Gefühl, zumal Doro, ihre Schwester so weit weg war.
Irgendwie hatte Conny das Bestmögliche aus dem schrecklichen Schicksalsschlag in ihrer Vergangenheit gemacht. Nach einem einsamen Jahr in der ursprünglich gemeinsamen Wohnung, war Conny zurück zu ihren Eltern nach Stellingen gezogen. Dort bewohnte die Familie schon seit Generationen eine große, alte Villa mit viel