Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
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Sie bewohnte eine der beiden Einliegerwohnungen unter dem Dach ihres Elternhauses. Das hatte den Vorteil, dass sie sich mit ihren Eltern nicht in die Quere kam. Sich mit Connys Eltern in die Quere zu kommen war ohnehin kaum möglich. Zumindest Tilda sah das so. Connys Eltern waren erstaunlich jung gebliebene Leute, ein wenig durchgeknallt und sehr nett. Sie hatten die Ansichten und Einstellungen von Mittdreißigern, obwohl sie gut und gerne doppelt so alt sein mussten, denn sie waren beide schon längere Zeit im Ruhestand. Tilda hatte sie bereits vor Jahren kennengelernt. Es war tatsächlich sehr schwer, die beiden auf ihr wahres Alter zu schätzen. Sie entzogen sich durch ihre Art und durch ihre jugendliche Ausstrahlung allen Maßstäben.
Vielleicht lag ihr Anderssein auch daran, dass sie die langen Winter in Deutschland mieden und stattdessen seit geraumer Zeit die kalte Jahreszeit in Südfrankreich verbrachten. Dort lebten sie glücklich, bescheiden und ohne großen Luxus, so dass Conny immer lachend behauptete, sie würden sehr viel Geld sparen können, wenn sie für immer dort bleiben würden. Obwohl sie ihre Eltern liebte, war sie durchaus von Zeit zu Zeit glücklich darüber, sie eine Weile lang los zu sein. Noch glücklicher war sie dann allerdings, wenn die beiden im Frühjahr wieder aus dem Süden zurückkehrten. Conny hatte in Tildas Augen bewiesen, dass es möglich war, auch aus einem schlimmen Schicksal noch etwas Gutes zu machen. Es kam offenbar nur auf die innere Einstellung an. Lächelnd erinnerte sich Tilda jetzt daran, dass sie Conny einmal danach gefragt hatte, ob sie ihren Eltern für die Wohnung im Dachgeschoss auch Miete zahlen würde. Schließlich war es ja nicht selbstverständlich, dass ein erwachsenes Kind mit eigenem Leben und eigenem Einkommen wieder ins elterliche Haus zurückkehrte, um dort eine ganze Etage zu bewohnen. Auf die Frage hin hatte Conny sie verständnislos angeschaut und im Brustton der Überzeugung gefragt: „Ich??? Ich soll ihnen Miete zahlen??? Ich verstehe deine Frage nicht! DIE müssen MIR was zahlen. Schließich bin ich die Hälfte des Jahres die Haus-Sitterin von dem großen Kasten!“ Tilda hatte ein wenig irritiert geschwiegen und dann unsicher gemurmelt: „Naja, ich dachte ja bloß…..“ Conny hatte schallend darüber gelacht und konnte sich erst gar nicht wieder beruhigen. Natürlich zahlte sie Miete an ihre Eltern, wie sie später richtigstellte. Aber sie machte ihre Späße gern und bei jeder Gelegenheit. Und sie machte sie mit allen Menschen ihrer Umgebung gleichermaßen. Berührungsängste hatte sie in dieser Hinsicht nicht. Deshalb gab es in der Schule zur zwei Lager: Die, die Conny liebten und die, die Conny hassten. Letztere wahrscheinlich deshalb, weil sie nie so genau wussten, woran sie bei ihr und ihren Späßen waren.
Auch eine weitere Begebenheit hatte Tilda nie vergessen. Es war während einer Grippewelle. Die Hälfte der Lehrer (und zum Glück auch ein Teil der Schüler) war krank. Die übrigen Lehrer mussten eine Flut von Vertretungsstunden übernehmen, um den Schulbetrieb überhaupt aufrechterhalten zu können. Im Namen aller hatte sich Conny beim Direktor bereits den Mund verbrannt, als sie auf der Lehrerversammlung offiziell zur Kenntnis gegeben hatte, dass sie selbst und die übrig gebliebenen Kollegen mit der Situation vollkommen überfordert waren. Trotzdem hatte der Direktor sie alle zu immer neuen Vertretungsstunden verurteilt. Conny hatte das am nächsten Tag am Vertretungsplan gesehen. Sie war dermaßen wütend darüber gewesen, dass sie Tilda sofort angekündigt hatte, diese Stunden diesmal nicht zu halten. Erbost hatte sie gesagt, der Direx solle sie sich „in die Haare schmieren“ oder so ähnlich. Das sei keine Schule mehr, sondern ein Irrenhaus. Conny und sie hatten sich zum Trost nach dem regulären Unterricht auf eine Pizza verabredet. Als sie beide auf leisen Sohlen möglichst unauffällig über den Schulkorridor in Richtung Ausgang strebten, erwischte sie der Direktor sozusagen auf frischer Tat. Seine tiefe Bassstimme dröhnte durch den langen Korridor, als er ihnen hinterherrief: „Wann kann ich denn heute noch mit ihnen rechnen, liebe Kolleginnen?!“ Nach einer Schrecksekunde hatte sich Conny zu ihm umgedreht und geflötet: „Überhaupt nicht, lieber Herr Direktor! Überhaupt nicht!“ Dann hatte sie ihm noch einmal gewinnend zugelächelt und war dann ungerührt in Richtung Ausgang weitergegangen. An Tilda gewandt hatte sie leise gezischelt: „Komm schnell!“. Draußen auf der Straße hatte sich Conny dann über den gelungenen Spaß vor Lachen ausgeschüttet. Tilda hingegen war danach nicht so sehr zum Lachen zumute gewesen.
Sie konnte sich noch gut erinnern, dass auch einige andere von Connys Späßen für sie anfangs gewöhnungsbedürftig waren. Das mochte wohl auch daran gelegen haben, dass sie zu diesem Zeitpunkt den etwas merkwürdigen Sinn für Humor ihrer Freundin noch nicht verstanden hatte. Aber das änderte sich schnell. Mit Conny zusammen war es immer lustig gewesen. Welche Konsequenzen Conny und sie damals für den Aufritt mit dem Direktor ertragen mussten, überraschte sie. Keine. Offiziell wurde die Begebenheit nie wieder erwähnt. Conny hatte übrigens immer eine gute Erklärung dafür, warum man sich nicht alles gefallen lassen dürfe. Ein ungeschriebenes Gesetz, so sagte sie jedenfalls, beschrieb die Regel: Wenn einer immer gut zum anderen ist, dann muss der andere böse werden. Zunächst schien diese Sichtweise ein Widerspruch in sich zu sein. Im Laufe der Jahre aber hatte Tilda erkannt, dass der Satz voller Wahrheit steckte.
Noch am selben Wochenende begann Tilda, ihre Reisevorbereitungen zu treffen. Für sie stand außer Frage, dass sie für zwei bis drei Wochen in Arizona nicht allzu viel benötigen würde. Dort war im Juni heißes Sommerwetter. Die Sachen für kühle Tage konnten folglich zu Hause bleiben. Alles, was sie vergessen hatte, würde sie sicher von ihrer Schwester bekommen können. Sie flog schließlich zum Familienbesuch und nicht als Touristin in eine Bettenburg.
Noch mehrmals nahm Ludwig Anlauf, um sie doch noch umzustimmen. Er bat und bettelte, versuchte sie mit allerlei Argumenten zu einem Sinneswandel zu bringen. Tilda ließ sich auf keine Diskussion mit ihm ein. Ihr war klar, dass wenn sie jetzt nicht flog, womöglich nie wieder etwas daraus werden würde. Noch reichten ihre Kräfte für eine Reise, aber wie lange würde das noch so sein? Im Gegensatz zur Vorwoche hatte Tilda sogar das Gefühl, ihr ginge es etwas besser. Die Anfälle von Übelkeit hielten sich in Grenzen. Nur ihr Appetit, der wollte einfach nicht wiederkommen. Ihr Gewichtsverlust setzte sich immer weiter fort. Seit Beginn des Jahres vor fünf Monaten hatte sie schon 10 Kilo verloren. Dementsprechend war sie auch viel weniger belastbar als früher. Sie fühlte sich die meiste Zeit über schwach und ausgelaugt. Das war ein Grund mehr, nur leichtes Gepäck mitzunehmen. Ludwig´s Versuche, ihre Reise zu verhindern, empfand sie als bedrohlich. Sie war sich sicher, dass er ihr gegenüber nicht ehrlich war und mit ihren Eltern paktierte. Nicht nur er, sondern auch ihre Eltern blieben dabei, dass sie in ihrem Zustand auf gar keinen Fall so eine Reise antreten sollte. Ihr Vater Thomas war nicht davor zurückgeschreckt, ihr klipp und klar zu sagen, dass er ihr Handeln für unverantwortlich, unüberlegt und obendrein kindisch hielt. Das hatte Tilda sehr verletzt. Sie war sofort in Tränen ausgebrochen. Nicht so sehr wegen seines Standpunktes, sondern deshalb, weil sich offensichtlich noch nicht einmal ihre Eltern die Mühe gemacht hatten, sich wirklich einmal in ihre aussichtslose Lage zu versetzen. Stattdessen beharrten sie auf ihrem Standpunkt, dass sie sich in der Klinik „helfen lassen sollte“. Tilda war todtraurig darüber, dass ihre Eltern in ihrer eigenen Angst und in ihrem Stress vollkommen verdrängten, dass es überhaupt keine wirkliche Hilfe in der Klinik für sie gab. Noch dazu war ihr Vater früher doch immer selbst derjenige gewesen, der der Meinung war, dass Angst ein schlechter Ratgeber sei. Während Tilda diese Weisheit schon als Kind verinnerlicht hatte, schien er sie inzwischen vergessen zu haben.
Die traurige Realität war unumstößlich die, dass Tilda mit ihren Eltern in dieser Angelegenheit nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen konnte. Sie fand das sehr schlimm. Sie war nicht daran gewöhnt, Differenzen mit ihnen zu haben. Tilda wollte auf keinen Fall im Streit mit ihnen auseinandergehen. Normalerweise hätte sie ihre Reise unter solchen Umständen gar nicht erst angetreten. Es schmerzte sie, dass sie offenbar wirklich in dieser angespannten Situation abreisen musste. Zudem belastete sie der Gedanke, dass ihre Eltern auch Doro deswegen unter Druck setzen würden.
Weinend hatte Tildas Mutter zu ihr bei einem ihrer vielen Anrufe nach der Reiseentscheidung gesagt: „Kind, ich habe das schlimme Gefühl, dass wir uns nicht mehr wiedersehen, wenn du jetzt fliegst!“ Obwohl für Tilda allein der Gedanke daran schon Horror war und sie am liebsten augenblicklich losgeheult hätte wie ein Schlosshund, hatte sie doch mit fester Stimme dagegen