Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
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Zwei Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dabei hatte sie sich vorgenommen, nicht zu weinen. Sie wusste, dass Weinen vollkommen nutzlos war. Es würde sie kein Stück weiter bringen. Nichts wurde besser durch weinen. Noch dazu fürchtete sie sich vor den neugierigen Blicken der Leute. Sich gehen zu lassen würde sie nur schwächer und hilfloser machen. Noch schwächer und noch hilfloser, als sie sich ohnehin schon fühlte. Es gab niemanden, der ihr die schwere Last von den Schultern nehmen konnte.
Entschlossen wischte Tilda sich die Tränen mit dem Handrücken fort. Sie blieb einen kleinen Moment lang stehen, um sich zu beruhigen. Währenddessen kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und rief sich ins Gedächtnis, dass sie sich fest vorgenommen hatte, positiv zu bleiben. Ein kleiner, kalter Schauer durchströmte ihre Brust und der Druck im Innern nahm einen Augenblick lang ab, während sie ausatmete. Solange nichts fest stand hatte sie, genau betrachtet, kein Problem. Was sie dachte und was sie befürchtete tat nichts zur Sache. Es war nichts erwiesen, also gab es keinen Grund, sich jetzt verrückt zu machen.
Die Menschen gingen an ihr vorbei und ab und zu spürte Tilda, wie ein neugieriger Blick sie streifte. Sie schämte sich dafür und gleichzeitig war es ihr auch irgendwie egal. Sie kannte die Leute schließlich nicht. Tilda blickte sich um. Die Stadt um sie herum war eigentlich wunderschön. Warum war ihr das seit Monaten überhaupt nicht mehr aufgefallen? Hier, in ihrem Viertel, war sie mitten in Hamburg und gleichzeitig auch irgendwie auf dem Dorf. Jeder kannte hier jeden. Hier gab es kleine Vorgärten und mehrgeschossige Wohnblocks mit Kinderspielplätzen, den kleinen Kiosk um die Ecke und den großen Supermarkt am Ende der Straße. Da waren postmoderne Häuser aus Glas und Beton neben alten Gemäuern, die liebevoll restauriert und saniert waren. Hier gab es Wasser und Wind, Bäume und Beete, Kultur und Unkultur, Intelligenz und Dummheit, Reichtum und Armut, breite Straßen und verträumte, schmale Wege. Alles war hier vorhanden.
Es war später Nachmittag geworden. Tilda blickte nach oben in den blassblauen Himmel, der sich schon auf den Abend vorzubereiten schien. Einige Federwolken zogen schnell vorbei, so als wären sie auf der Durchreise und hätten es eilig. Wolken waren immer auf der Durchreise. Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn und gab sich einen Ruck, steckte das Taschentuch zurück in ihre Handtasche und zog den Reißverschluss zu. Wie auch immer es kommen würde, sie musste jetzt da durch. Es gab keine andere Möglichkeit für sie.
Mit beschleunigtem Schritt bog sie um die Ecke. Drei kleine, etwa sechsjährige Mädchen mit fliegenden Röcken und ein etwa ebenso alter Junge in einer blauen Latzhose und einem orangefarbenen T-Shirt hüpften lachend über die mit bunter Kreide bemalten Platten des Gehweges. Tilda machte einen großen Bogen um sie, um das Kreidekunstwerk nicht zu beschädigen. Eines der Mädchen mit weizenblonden, langen Zöpfchen kicherte halblaut ein „Dankeschön!“ hinter ihr her. Ein Hund kläffte in der Nähe. Sie erkannte ihn sofort. Es war der Hund aus dem Nachbarhaus. Ein rostbrauner, halbhoher Mischling mit weißen und schwarzen Flecken, der ganz offensichtlich aus ungezählten Hunderassen hervorgegangen war. Es war ein Hund mit dickem Körper, kurzen Stummelbeinchen und zwei überdimensionalen Schlappohren. Zwei freundliche, schwarze Knopfaugen und eine schwarze Nase rundeten seine ungewöhnliche Erscheinung ab. Dieser Hund hörte auf den Namen „Struppi“. Der Name stimmte insofern, weil Struppi die meiste Zeit des Jahres unter irgendeiner Hautkrankheit litt. Während dieser Zeit machte Struppi seinem Namen alle Ehre. Am anderen Ende der Leine ging „Struppis Herrchen, Günter Schröder. Tilda kannte den Mann aus dem Nachbarhaus nur vom Sehen. Er war undefinierbaren Alters und hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit seinem Hund, was den dicken Bauch und die kurzen Stummelbeine anging. Bei den Ohren gab es allerdings einige Abweichungen und auch seine Nase hatte eine andere Farbe. Es war kein Wunder, dass alle in der Umgebung Struppis Herrchen hinter vorgehaltener Hand nicht „Herr Schröder“ nannten, sondern „Herr Struppi“. Tilda war sich ziemlich sicher, dass er nichts davon wusste. Sogar ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, jetzt, wo sie daran dachte.
Einen Augenblick später war sie vor dem Haus mit der Nummer 125 in der Wentorfer Straße angekommen, in dem sie gemeinsam mit Ludwig eine Dreizimmerwohnung im vierten Stock bewohnte. Sie blieb einen Moment lang vor der Haustür stehen und suchte in den Abgründen ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. An dieser Stelle stand sie mindestens einmal täglich und wühlte in ihrer Handtasche. Es war schon fast ein Ritual, das zwar nie geplant war, aber trotzdem jeden Tag wieder stattfand.
Während sie den Haustürschlüssel bereits im Schloss drehte, streifte ein kurzer Blick die Fassade des Hauses. Es sah ehrwürdig und gediegen aus mit seiner liebevoll sanierten, roten Backsteinfassade und den gemauerten Zierverbänden darin. Es war ein Schmuckstück aus einem anderen Jahrhundert, das nichts von seinem Glanz verloren hatte. Sie schloss die weiße, hölzerne Tür auf. Im Treppenahaus roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee und einem Putzmittel mit Blütenduft. Tilda nahm den Lift in den vierten Stock. Normalerweise nahm sie immer die Treppe, aber jetzt fühlte sie sich zu schwach dafür.
Ludwig war schon zu Hause, als sie die Tür zur Wohnung aufschloss. Er war gerade damit beschäftigt, seine Sporttasche zu packen und kam ihr sofort entgegen.
Während er seine Arme ausbreitete, um sie zu begrüßen, sagte er vorwurfsvoll: „Na endlich, da bist du ja! Wo warst du denn nur so lange? Warst Du schon bei Dr. Umlauf? Was sagt er?“ Tilda befreite sich aus seiner Umarmung und zuckte mit den Schultern. „Ja, ich war da. Was er sagt? Nichts!“ Tilda hob erneut ihre Schultern. „Er hat nichts gesagt. Aber er hat mich für morgen zum MRT überwiesen.“ Ludwig nahm sie noch einmal in die Arme und drückte sie fester an sich. Er roch nach frischem Kaffee und irgendwie auch nach Schokolade und nach Erdnüssen. Er strich ihr eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und sah sie fragend an. Seine wasserblauen Augen blickten besorgt auf sie herab. „Was soll das heißen, er hat nichts gesagt? Also weißt Du noch gar nichts?“ Er sah sie aufmerksam an. Sofort schossen ihr wieder die Tränen in die Augen, so wie vorhin auf der Straße. Ludwig hielt sie an beiden Schultern fest, verstummte und runzelte besorgt die Stirn, während er weitersprach: „Das sind aber irgendwie keine guten Nachrichten. Leg´ dich erstmal hin. Du siehst müde aus!“ Er ging wortlos ins Schlafzimmer und holte die neue Wolldecke mit dem rot/blau/weißen Schottenkaromuster aus dem großen Kleiderschrank, die seine Eltern ihnen von ihrer Schottlandreise im letzten Herbst mitgebracht hatten. Tilda fröstelte. Die Decke kratzte zwar ein wenig, aber sie wärmte ganz ausgezeichnet. Es war eine großartige Decke, auch wenn Tilda die Eltern von Ludwig wegen ihrer Spießigkeit und wegen ihrer aufgeblasenen Art nicht besonders gern mochte. Jetzt zog sie ihre dunkelblaue Jacke aus. Während Ludwig sie an die Garderobe hängte sagte er: „Ich muss zwar gleich los, bin eigentlich schon weg. Aber soll ich dir noch einen Tee machen bevor ich gehe?“, Tilda nickte langsam, während sie sich wie ein Stein auf die hellgraue Couch im Wohnzimmer fallen ließ. Im Grunde war es ihr ganz recht, dass er jetzt zum Sport gehen wollte, obwohl sie auch irgendwie auf seinen Beistand gehofft hatte und ein wenig enttäuscht war. Bevor Ludwig in die Küche ging, um Tee zu machen, breitete er die Schottenkaro-Decke über ihr aus. Tilda schloss die Augen. Sie war innerlich so unruhig, dass sie unmöglich schlafen konnte. Kalte Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Sie lag ganz still und wartete, bis ihr Atem und ihr Geist sich beruhigt hatten. Sie lag einfach nur so da und öffnete wieder die Augen. Irgendwann begannen die in dem gemütlichen Wohnzimmer umher zu wandern. Ein kleines Lächeln trat auf ihr Gesicht. Das Lächeln war winzig klein, aber es fühlte sich gut an und sah noch besser aus. Leider war da niemand, der es sehen konnte. Es war das erste Lächeln nach den vielen Stunden der Anspannung an diesem Montag.
Tilda war einfach nur glücklich,