Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon

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nicht. Am liebsten hätten sie es gesehen, wenn ihr lieber Goldjunge Ludwig direkt in ihre Nähe gezogen wäre. Es wäre ihnen sicher auch egal gewesen, wenn er sich dafür von ihr hätte trennen müssen. Für Tilda war es vollkommen undenkbar, nach München zu ziehen. Sie liebte den Norden und Ludwig wusste, dass ein Umzug für sie nicht in Frage kam.

      Bisher wussten seine Eltern nichts von ihrer mysteriösen Krankheit. Und das war auch gut so. Tilda hatte Ludwig von Anfang an darum gebeten, ihnen nichts darüber zu erzählen. Seine Eltern hatten in München einen recht großen Freundeskreis, dem auch diverse Ärzte angehörten. Ludwigs Eltern umgaben sich gern mit Ärzten. Wahrscheinlich fühlten sie sich dadurch aufgewertet. Sein Vater war vor seinem Ruhestand Pharmavertreter gewesen und er hatte augenscheinlich richtig gut dabei verdient. So viel, dass Ludwigs Mutter nie arbeiten gehen musste. Tilda konnte sich schon vorstellen, wie sie schlimmstenfalls in München von einem der befreundeten Ärzte zum nächsten weitergereicht werden würde, sobald Ludwigs Eltern von ihrer Krankheit erfahren hatten. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Sie wollte nicht nach München. Nicht jetzt und nicht später und noch nicht einmal zu Besuch. Ganz davon abgesehen konnte sie sich auch nicht vorstellen, in ihrem derzeitigen Zustand zu verreisen. Aber wie sollte sie das Ludwig beibringen? Und wie brachte er das wiederum seinen Eltern bei?

      Nachdenklich ging sie zum Fenster und sah hinunter auf die hellgrünen Baumkronen, die sie entlang der Wentorfer Straße von oben sehen konnte. Sie blickte auf die Dächer der vorbeifahrenden Autos, von denen einige bereits das Licht eingeschaltet hatten. Sie sah auf die Köpfe der dahineilenden Passanten. Weiter vorn, die Straße hinunter, wurde gerade ein LKW polternd mit Bauschutt beladen. Eine zementgraue Staubwolke erhob sich und zog die Straße entlang. Tilda schloss schnell das Fenster. Sie war schwermütig, fühlte sich unsicher. Obwohl es ihr in diesem Moment gut ging, war es doch möglich, dass sich ihre Krankheit in Kürze wieder verschlimmerte. Ihr Urvertrauen, dass irgendwie im Leben alles wieder gut werden würde, war inzwischen angeschlagen. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals zuvor so hilflos gefühlt zu haben. Sie nahm sich einen Schokoladenriegel aus der Packung, die Ludwig auf dem Tisch im Wohnzimmer liegen lassen hatte. Einen Moment lang hielt sie ihn zwischen den Fingern und legte ihn dann doch zurück. Die Übelkeit überkam sie erneut und plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr.

      An diesem Abend ging sie früh zu Bett, konnte jedoch lange keinen Schlaf finden. Die Gedanken an den nächsten Tag belasteten sie. Es würde vermutlich der Tag der Wahrheit werden. Ihr Termin zum MRT stand fest. Sie hatte ihn bestimmt nur deshalb so schnell bekommen, weil Dr. Umlauf vermutlich einen schlimmen Verdacht hatte. Zumindest lag das nahe. Der Arzt hatte sich auf dem Überweisungsschein in handschriftlichen Hieroglyphen wohl auch dazu ausgelassen. Leider war seine Schrift für Tilda unlesbar und sie scheute sich davor, Ludwig zu fragen, ob er die undeutlich hin gekritzelten Worte entziffern konnte. Es würde sich schon zeigen, was mit ihrer Gesundheit nicht stimmte. Tilda fühlte, wie sich alles in ihr zusammenzog und erneut diese merkwürdige Kälte durch sie hindurchströmte. Sie drehte sich zur Seite und schloss fest die Augen. Sie wünschte sich nichts mehr, als sofort fest einzuschlafen und einfach am nächsten Morgen zu erwachen und zu erkennen, dass alles nur einen bösen Traum gewesen war.

      Irgendwann hörte sie im Halbschlaf, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und Ludwig nach Hause kam. Dann schlief sie wieder fest ein. Im Laufe der Nacht erwachte sie mehrmals durch eine schreckliche innere Unruhe. Es war bereits nach Mitternacht, als wie wieder einmal auf das Zifferblatt ihres Weckers schaute. Der Tag der Untersuchung war also schon angebrochen. Tilda lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit des Zimmers. Sie hatte keine Chance, auch nur für einen Moment wieder einzuschlafen. Die Angst hockte auf ihrer Decke. Ihr blondes Haar klebte ihr schweißnass am Kopf. Sie war durchgeschwitzt, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Sie hoffte, dass das nur Symptome ihrer Angst waren und keine Zeichen ihrer Krankheit. Sie war in jedem Falle tief beunruhigt. Stumm fragte sie sich, wo eigentlich ihr Leben geblieben war. Ihr schönes, friedliches, entspanntes Leben, das sie bisher immer so selbstverständlich hingenommen hatte. Ihre Augen brannten im Dunkeln. Ihre Lippen und ihr Hals waren trocken. Das Schlucken fiel ihr schwer. Es war, als wenn ein Stöpsel in ihrer Kehle steckte. Auf ihrer Zunge lag ein bitterer Geschmack. Sie fühlte etwas Schreckliches auf sich zukommen, ohne beschreiben zu können, was es war. Ihre Hände lagen zu beiden Seiten ihres Körpers und hielten krampfhaft das Laken fest. Tilda hätte schreien können vor Angst. Sie versuchte, kontrolliert zu atmen, um die Panik zu überwinden, die sich an sie geheftet hatte wie ein schwerer Stein an einen Ertrinkenden. Am Schlimmsten war die Angst vor der Ungewissheit, die sie Stunde für Stunde aus riesigen schwarzen Augen anstarrte und sie nicht wieder einschlafen ließ. Diese Ungewissheit war schlimmer, als alles, was sie bisher kannte. Sie war absolut unerträglich. Möglicherweise war das ihr Instinkt, der eine schlimme Krankheit anzeigte. Oder hatte sie sich da bloß in etwas hineingesteigert?

      Eine endlos lang erscheinende Zeit rang Tilda so um ihre Fassung. Irgendwann stand sie auf und ging ins Wohnzimmer, ins Bad, ins Wohnzimmer zurück und wieder ins Bad. Sie wusch sich ihr Gesicht und die Unterarme mit kaltem Wasser. Das half ihr ein wenig, sich abzulenken und für kurze Zeit an etwas anderes zu denken. Nach einer knappen Stunde fühlte sie sich ein wenig ruhiger. Sie schlich ins Schlafzimmer zurück und legte sich leise wieder neben Ludwig. Sie wollte ihn nicht stören. Was hätte er auch für sie tun können? Sie hätte ihm ihre Angst nicht erklären können. Es gab bisher auch gar keinen vernünftigen Grund dafür. Ludwig hätte das nicht verstanden. Sie kannte ihn lange genug, um das zu wissen. „Wegen ungelegter Eier braucht man sich nicht fertig zu machen.“, pflegte er bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen. Tilda kannte seine Sprüche. Sie wollte sie nicht hören.

      Nach wie vor waberte in ihrem Kopf ein Gedankenknäuel umher, von dem sie sich bis zum Morgengrauen nicht frei machen konnte. Alle Menschen um sie herum schienen zu atmen und zu leben, gingen zur Arbeit und wieder nach Hause. Sie hatten ihre Familien, ihre Sorgen und Nöte und natürlich auch ihre Freuden. Alle um sie herum schienen gesund zu sein. Die ganze Welt schien voller gesunder Menschen zu sein. Nur bei ihr stimmte etwas nicht. Während Hamburg pulsierte und voller Leben war, lag sie von Panik gequält in der Dunkelheit. Sie wollte doch eigentlich überhaupt nichts mit dem Krankenhaus zu tun haben! Sie wollte noch nie etwas mit Krankenhäusern zu tun haben! Sie wollte die Menschen dort nicht treffen. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. In diesem Moment wünschte sie sich weit weg in ein anderes Leben. Doch all das brachte sie nicht weiter. Sie würde in ein paar Stunden genau dort hingehen müssen, wo sie nicht hin wollte: ins Krankenhaus. Tilda erschien das wie der Weg zum Schafott.

      Immer noch lag sie mit weit geöffneten Augen in der Dunkelheit und starrte vor sich hin, ohne etwas Genaues dabei sehen zu können. Nur der mitleidlose Wecker neben ihr tickte leise. Tilda sah erneut auf sein Zifferblatt. Es war erst 4.00 Uhr morgens. Viel zu früh, um aufzustehen. Die Zeit tropfte so langsam wie zäher Honig von einem Löffel herab. Erst in zwei Stunden wollte sie aufstehen. Tilda presste die Lider zusammen. Sie nahm sich ganz fest vor, bis dahin über nichts Schreckliches mehr nachzudenken. Ganz still lag sie so und fühlte sich wie erstarrt. Es war ein Gefühl, für das es keine Worte gab.

      Unten auf der Straße fuhren zwei Autos vorbei. Autotüren wurden zugeschlagen. Für manche Anwohner der Straße begann offenbar schon der Tag. Tilda drehte sich um. An Schlaf war an diesem frühen Morgen nicht mehr zu denken.

      KAPITEL 2

      Der Morgen kam unweigerlich und hüllte die Stadt in ein fahles Licht. Tilda hatte den Wecker ausgeschaltet, als sie weit vor der Zeit aufgestanden war. Sie konnte nicht länger im Bett bleiben. Ihr Körper schmerzte. Beim Frühstück mit Ludwig blieb sie einsilbig. Er bemerkte es entweder nicht oder er ignorierte es. Er verhielt sich an diesem Morgen genau wie immer. Tilda war sich nicht sicher, ob er sich wirklich keine Sorgen machte oder ob er nur so tat, als ob er sich keine machen würde. Vielleicht hatte er auch einfach nicht mehr daran gedacht, dass sie ihren Termin beim MRT hatte. Möglich war das auch. Ludwig war zwar sehr sensibel, allerdings gewöhnlich nur dann, wenn es um ihn selbst ging. Im täglichen Miteinander hatte Tilda sich im Laufe der Zeit schon fast daran gewöhnt. Es war ihr anfangs nicht leicht gefallen, aber nach den

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