Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
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Jetzt, wo sie darüber nachdachte, war ihr alles wieder vollständig gegenwärtig. Vor zwanzig Jahren, als ihre ältere Schwester Dorothea und sie selbst noch klein waren, waren ihre Eltern wegen der besseren beruflichen Perspektive aus Klein Trebbow in Mecklenburg nach Hamburg umgezogen. Das war ein großer Einschnitt für alle gewesen. Draußen auf dem Lande hatten sie ein komplett anderes Leben geführt, als später in der Stadt. Tilda erinnerte sich noch genau an ihre ersten Lebensjahre in Mecklenburg voll von unendlicher Freiheit inmitten von Wiesen, Wäldern, Feldern und dem Ufer des Sees. Sie erinnerte sich an das alte, gemütliche Häuschen, dass ihre Mutter von Omi geerbt hatte und an dem ihr Vater Thomas unentwegt gebaut und repariert hatte. Es war nie so richtig fertig geworden. Damals, als sie von Klein Trebbow weggezogen waren, war die Terrasse immer noch im Rohbau gewesen und die Holzverschalung am Giebel war noch immer nicht gestrichen. Im Flur fehlte noch die Tapete, genauso wie das Waschbecken in der Gästetoilette. Und dennoch war dieses Haus für sie und ihre Schwester das schönste Häuschen auf der ganzen Welt gewesen. Tilda erinnerte sich auch an die scheinbar endlosen Sommer und an den kleinen Kindergarten mit den fünfundzwanzig Kindern, die in zwei Gruppen aufgeteilt waren. In jeder Gruppe waren Kinder unterschiedlichen Alters gewesen. Sie waren zwischen einigen Monaten und sechs Jahren alt. Und sie erinnerte sich an die beiden Erzieherinnen, die Frau Brathering und Fräulein Mielke hießen. Jeden einzelnen Tag, den sie im Gedächtnis behalten hatte, hatten die beiden Frauen versucht, zum schönsten ihrer gesamten Kindheit zu machen. Wenn es auf dieser Welt ein Kinderparadies gab, dann war es sicher der Kindergarten von Klein Trebbow gewesen.
Frau Brathering war im letzten Jahr im Alter von nur 48 Jahren an Eierstock-Krebs gestorben. Alles war ganz schnell gegangen. Als Tilda die Nachricht darüber erhielt war alles schon vorbei gewesen. Sie hatte sich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt. War ihr doch, als hätte sie gerade gestern noch als kleines Mädchen auf ihrem Schoß gesessen. In Tildas Erinnerung war Frau Brathering immer noch die junge Frau mit der Schafwoll-Strickjacke und der randlosen Brille, die sie meist nach oben ins Haar geschoben hatte. Sie hatte immer so gesund ausgesehen. Sie hatte die roten Wangen einer Landfrau und sprudelte nur so über vor guter Laune. Sie trug ihren dicken, brauen Zopf meist zu einem Dutt zusammengesteckt, damit er sie nicht störte. In Tildas Erinnerung war sie alterslos geblieben und noch genauso jung wie damals, als sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Tilda fragte sich, warum es ihrer Erzieherin nicht gelungen war, den Krebs abzuschütteln. Sie war gestorben, obwohl sie, wie Tilda später erfuhr, alle üblichen Therapien ausgeschöpft hatte.
Doro war es gewesen, die ihr die schreckliche Nachricht überbracht hatte. Ihre Schwester hatte immer noch gute Kontakte nach Klein Trebbow. Vielleicht kam das daher, dass sie, die seit über zwölf Jahren schon mit Mann und Kindern in den USA lebte und so weit weg von Deutschland war, die alten Freundschaften aus der Kinderzeit viel intensiver pflegte. Ihre Schwester hatte, so lange sich Tilda erinnern konnte, in Klein Trebbow immer mit ihrer Kinderfreundin Sandra Kontakt gehalten. Sandra war zu Doros Außenposten in der deutschen Pampa geworden. Mit ihr mailte oder telefonierte sie jede Woche. Auch Sandra hatte inzwischen, so wie Doro selbst, einen Ehemann und drei Kinder. Tilda hatte ein Foto von ihr gesehen und war erstaunt darüber gewesen, dass Sandra ihrer Mutter inzwischen zum Verwechseln ähnlich sah. Sie schien glücklich mit dem örtlichen Klempner verheiratet zu sein und wie es sich gehörte war sie bodenständig im Dorf geblieben. Jedenfalls war Sandra immer bestens über alles informiert. Es mochte sein, dass nicht ganz so wohlmeinende Stimmen aus dem Dorf ihr hinter vorgehaltener Hand den Spitznamen „Die Dorfzeitung“ gegeben hatten. Aber mit der Dorfzeitung befreundet zu sein, garantierte Doro selbst über eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern hinweg, immer präzise auf dem letzten Stand der Dinge zu sein, die sich in Klein Trebbow und Umgebung ereigneten.
Tilda fand es wirklich erstaunlich, wie präsent das alles noch in ihrer Erinnerung war. Jetzt, wo sie daran dachte, hätte sie sogar die Namen aller Kinder, mit denen sie gemeinsam in den Kindergarten gegangen war, aufzählen können. Allerdings hatte sie im Gegensatz zu ihrer Schwester nach dem Umzug recht schnell den Kontakt verloren. Vielleicht hatte das daran gelegen, dass sie in der großen Stadt schnell neue Freundinnen gefunden hatte und auch daran, dass sie in Klein Trebbow nicht so eine Busenfreundin zurückgelassen hatte wie ihre Schwester. Tilda hatte überhaupt keine Ahnung davon, was aus den meisten anderen von damals geworden war. Trotzdem war die Erinnerung an diesen wundervollen Kindergarten und das Landleben in den Jahren danach kaum verblasst. Wie oft hatten sie als Kinder zusammen mit den Erzieherinnen Nudeln mit Tomatensoße in der winzigen Küche des Kindergartens gekocht? Wie oft hatten sie Gemüse für einen Salat klein geschnitten, das sie aus den elterlichen Gärten mitgebracht hatten? Wie oft hatten sie mit Fräulein Mielke die Vogelhäuschen auf dem Kindergartengelände mit Vogelfutter gefüllt, aus Perlen Ketten und Untersetzer gefädelt, Bäumchen gepflanzt und sogar einmal eine verletzte Amsel aufgepäppelt? Wie oft hatten sie gemeinsam aus Ästen, Zweigen und Moos Hütten im nahen Wald gebaut oder hatten dort herumgetobt und verstecken gespielt? Tilda war sich sicher, dass dieser wunderbare Land-Kindergarten mit seinen Freiheiten der Beste war, das einem Kind zu Beginn seines Erdenlebens passieren konnte. Inzwischen war er geschlossen. Es gab nicht mehr genug Kinder im Dorf.
Jetzt wo Tilda erwachsen war, in Hamburg lebte und selbst an einer Schule arbeitete, kannte sie auch den Erlebnishorizont der Stadtkinder. Bestimmt hatten die meisten von ihnen keine Ahnung davon, wie man am schnellsten auf einen Baum klettern konnte oder wie man in eine Schlammpfütze hüpfen musste, damit alle anderen in der Nähe voll Schlamm waren, man selbst aber sauber blieb. Bestimmt hatten sie im Herbst noch nie Säcke voller Eicheln und Kastanien für die Tiere des Waldes gesammelt. Und sie hatten sie anschließend auch nicht mit einem Handwagen zum Forsthaus im Wald gezogen, um anschließend gemeinsam mit dem alten Förster am Lagerfeuer Stockbrot zu backen.
Sicher, es gab Kinos in der Stadt, Spielplätze, Hüpfburgen und Einkaufszentren und die Stadtkinder kannten sich oft besser mit ihren Smartphones aus. Sie konnten schon frühzeitig ihre Fahrkarten für Bus und Bahn allein am Automaten lösen. Es war wirklich schwierig, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Es fühlte sich für Tilda an, als würde sie Äpfel mit Birnen vergleichen wollen. Welches der Stadtkinder hatte schon gelernt, Frösche zu fangen, ohne sie zu verletzen und welches konnte die Vögel des Waldes an ihrem Ruf unterscheiden? Die Stadtkinder konnten Automarken voneinander unterscheiden. Tilda war irgendwann in der Stadt klar geworden, dass die Wenigsten von diesen Kindern jemals diese Art unendlicher Freiheit kennenlernen würden, deren Magie sie und ihre Schwester unauslöschlich mit hinüber in ihr Erwachsenenleben genommen hatten. Auch Doro, mit der sie später gemeinsam mit den anderen Dorfkindern in die 15 Busminuten entfernte kleine Schule in Lankow ging, war nach dem Umzug wochenlang tief erschüttert gewesen. Hatte sie doch alle ihre Freundinnen in Klein Trebbow zurücklassen müssen. Tilda hatte diesen Umstand ebenfalls als ein wahrhaftiges Drama in Erinnerung mit Sturzbächen von Tränen und mit Fieber, Bauchschmerzen und Schüttelfrost. Damals war ihnen beiden noch nicht klar gewesen, dass es in ihrem Leben nie wieder so werden würde, wie es gewesen war. Und doch war die Hoffnung auf ein Leben auf dem Lande auch später irgendwo immer tief in ihnen geblieben.
Das Häuschen ihrer Großmutter hatten ihre Eltern damals verkaufen müssen. Sie hätten sich von Hamburg aus nicht darum kümmern können. Das zumindest hatten sie ihren Töchtern erklärt. Dafür waren sie in eine schicke Wohnung mit Balkon in der Stadt gezogen. Die Mädchen hatten ihre eigenen Zimmer bekommen mit rosa Tapeten und neue Fahrräder und irgendwann verblasste auch die Erinnerung an Klein Trebbow ein wenig. Der neue Alltag hatte das Heimweh weggewischt. Das Häuschen von Omi gab es inzwischen nicht mehr. Es war abgerissen worden. Der Käufer von damals hatte es zugrunde renoviert. Es war nicht mehr zu retten gewesen. Ihre Eltern Thomas und Brigitte hatten