Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
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Читать онлайн книгу Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon страница 14
Langsam rutschte Tilda von der Truhe. Sie schob die Ärmel ihres roten Hausanzuges hoch und betrachtete aufmerksam ihr Bild im Spiegel an der Tür des Kleiderschrankes. Eigentlich war das in der Tat ein nicht mehr ganz neuer Hausanzug. Oder anders ausgedrückt war er schon etwas in die Jahre gekommen. Ludwig hatte neulich nicht ganz Unrecht gehabt, als er ihn abschätzig betrachtet hatte. Aber er hatte in diesem Zusammenhang verletzende Dinge gesagt. Das war unfair gewesen. Tilda wusste nicht so genau, wie lange sie diesen Anzug schon besaß. Seine besten Tage hatte er möglicherweise tatsächlich hinter sich. Doch das war ihr vollkommen egal. Sie liebte ihn. Sie wollte ihn einfach nicht wegwerfen, solange sie ihn noch tragen konnte. Für sie war er wie ein Stück zu Hause. Er war weich und wirklich bequem und sie fand es überhaupt nicht schlimm, dass er bereits etwas die Form und die Farbe verloren hatte. Vor allem in Zeiten, in denen sie sich nicht wohlfühlte, und das war häufig gewesen in der letzten Monaten, hatte er ihr irgendwie immer sehr geholfen. Es mochte sein, dass sie sich das alles nur einbildete und der Anzug in Wahrheit wie ein Placebo wirkte. Ludwig jedenfalls war überzeugt davon. Doch Tilda war das vollkommen gleichgültig. Dass der Anzug hässlich sein sollte, weil er inzwischen nicht mehr neu war, lag allein im Auge des Betrachters. Ludwig hatte sie neulich darin gemustert und geringschätzig behauptet, sie hätte einen dicken Hintern darin. Tilda hatte sich durch seine Worte sehr verletzt gefühlt. Es hatte ihr wehgetan, dass Ludwig sie so wenig kannte, dass er nicht einmal wusste, dass ihr das „dicke-Hintern-Ding“, über das sich die meisten Frauen geärgert hätten, vollkommen am selbigen vorbeiging. Solange sie nicht in Wirklichkeit einen dicken Hintern hatte, sondern nur in diesem ausgebeulten Anzug, interessierte sie das überhaupt nicht. Ludwig hatte sogar ein Zitat von Karl Lagerfeld angeführt, dem Modezaren, von dem jeder halten konnte, was er wollte. Laut Ludwig sollte Lagerfeld angeblich gesagt haben: „Wer eine Jogginghose trägt hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Tilda wusste nicht genau, ob sie sich über seine Worte ärgern sollte oder ob sie einfach nur enttäuscht von ihm war. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Wie konnte Ludwig behaupten, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr ärgerte sie sich über seine taktlose Art. Sie hatte sich wirklich oft genug entsetzlich gefühlt in den letzten Monaten. Sie hatte Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Appetitlosigkeit und Schwäche klaglos ertragen. Sie war trotzdem ihrer Arbeit in der Schule nachgegangen, hatte den Haushalt in Schuss gehalten und war fast immer optimistisch gewesen. Sie hatte sich nie beklagt. War es tatsächlich so schlimm, wenn sie abends ab und zu das rote Ungetüm trug, so wie neulich? Hatte Ludwig überhaupt jemals versucht, sich in ihre Lage zu versetzen? Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, wie sie sich wirklich fühlte. Er sah immer nur sich selbst, ging immer nur von sich aus. Und er bemerkte das noch nicht einmal.
Nachdenklich holte sich Tilda ein großes, frisches Handtuch aus dem Badezimmerschrank, hängte es über den Rand der Badewanne und stieg in die Dusche. Sie hatte das Bedürfnis, diesen schrecklichen Tag einfach von sich abzuspülen. Alle negativen Gedanken wollte sie von sich abwaschen und die Ängste vom MRT am Vormittag gleich mit. Das warme Wasser prickelte auf ihrer Haut und beruhigte ein wenig ihre angespannten Nerven. Minutenlang genoss sie einfach nur, unter dem warmen Wasserstrahl zu stehen und sich für einen Moment keine Sorgen machen zu müssen.
Das Telefon klingelte. Tilda lief mit dem Handtuch ins Wohnzimmer und nahm das Telefon von der Ladestation. Es war ihre Mutter Brigitte, die von ihren Gesundheits-Sorgen zum Glück noch so gut wie nichts wusste. Tilda hatte ihren Eltern kaum etwas über ihr mysteriöses Unwohlsein der letzten Monate erzählt. Das war nicht schwer gewesen. Sie hatten sich auch nicht so häufig gesehen in der letzten Zeit. Genauer gesagt hatte Tilda ihre merkwürdigen Symptome nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt. Das war zu Ostern gewesen. Danach hatte sie sich vorgenommen, keine Energie mehr in dieses Thema zu schicken, damit es nicht wuchs und gedieh wie ein Pilz. Schließlich wollte sie das Problem loswerden und es nicht füttern. Ihre Eltern hielten ihre mysteriöse Krankheit sicher für längst auskuriert und das war gut so. Tilda kannte sie. Sie wusste, dass sie sich Sorgen machen würden und deshalb wollte sie sie auf gar keinen Fall beunruhigen. Und noch etwas war der Grund für ihr Schweigen. Sie wollte keine guten Ratschläge von ihnen hören, was sie nun am besten tun sollte. Und sie wollte außerdem nicht hören, welche Ärzte aus ihrem Freundeskreis wahrhafte Koryphäen waren, die sich des Problems jetzt am besten sofort annehmen sollten…..
Ganz davon abgesehen war Tilda bisher noch immer davon überzeugt, dass in ihrem Körper alles wieder von allein in Ordnung kommen würde. Seit ihrem Termin beim MRT am Vormittag war ihr Optimismus allerdings irgendwie kleiner geworden. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Während sie versuchte, auf ihre Mutter am Telefon entspannt zu wirken, zog sie sich so gut es ging nebenbei ihre Jeans und das mausgraue T-Shirt mit einem bunten Blumenaufdruck an. Sie hatte nicht schon wieder Lust auf Karl Lagerfelds Spruch, wenn Ludwig nach Hause kam.
Während sich Tilda auf die nachtblaue Couch im Wohnzimmer fallen ließ und den Schilderungen ihrer Mutter zuhörte, die alles immer spannend wie einen Krimi zu erzählen wusste, war sie gar nicht recht bei der Sache. Da ihre Mam aber allerhand berichtete, machte es ihr Redeschwall nur ab und zu erforderlich, dass sie antworten musste. Parallel dazu formulierte ihr Gehirn währenddessen bereits einige Sätze, die sie ihr über ihren angeschlagenen Gesundheitszustand sagen wollte, die sie ihr inzwischen fairerweise sagen musste. Tilda wollte auf gar keinen Fall, dass sich ihre Eltern Sorgen machten. Falls sich jetzt tatsächlich herausstellen sollte, dass mit ihrer Gesundheit irgendetwas nicht stimmte, wollte sie nicht den Vorwurf zu hören bekommen, dass sie von nichts gewusst hätten und dass sie übergangen worden seien.
Tilda hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt und das war ihr auch immer wichtig gewesen. Thomas und Brigitte Johannsen waren im letzten Jahr gemeinsam in den Ruhestand gewechselt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie bei der Hamburger Sparkasse gearbeitet, jeder in einer anderen Filiale in der Stadt. Dank ihres beruflichen Engagements hatten sie sich in den letzten zwanzig Jahren recht weit nach oben gearbeitet. Wenn man berücksichtigte, dass sie vom einfachen Schalterdienst an der Basis im tiefsten Mecklenburg gestartet waren und zum Schluss ihre eigenen Abteilungen in Hamburg geleitet hatten, so war Tilda voller Respekt für sie. Aber das war es nicht allein. Sie waren ihr und ihrer Schwester Doro immer gute, verständnisvolle Eltern gewesen. Sie hatten ihr Bestes gegeben, auch wenn das für zwei Berufstätige nicht leicht gewesen war und Tilda und ihre Schwester sich manchmal allein gefühlt hatten. Im Stillen hatte Tilda manchmal ihre Freundinnen beneidet, deren Mütter fast alle Hausfrauen gewesen waren und die mittags mit dem Essen auf sie gewartet hatten, wenn sie aus der Schule nach Hause kamen. Doro und Tilda hatten niemanden gehabt, der mittags auf sie wartete, wenn die Schule zu Ende war. Aber sie hatten das Beste daraus gemacht. Sie hatten gemeinsam kochen gelernt und das hatte sich bald als überaus nützlich für ihr gesamtes weiteres Leben erwiesen. Je älter Tilda wurde, desto mehr wurde ihr klar, dass ihre Mutter mit ihrer Berufstätigkeit genau das Richtige getan hatte. Während die Mütter ihrer Freundinnen irgendwann nach den vielen Jahren als Hausfrau damit begannen, als geringfügig Beschäftigte im Supermarkt Regale aufzufüllen, und froh darüber waren, überhaupt wieder einen Job gefunden zu haben, wurde ihre Mutter Abteilungsleiterin bei der Sparkasse. Auch das war es, wofür sie ihren Eltern im Nachhinein dankbar war. Für Tilda hatte schon immer die Frage im Raum gestanden, was vom Elternsein blieb, wenn die Kinder erwachsen waren. Sie frage sich, ob es sich überhaupt lohnte, wegen dieser wenigen Jahre als Mutter kleiner Kinder die gesamte berufliche Perspektive auf´s Spiel zu setzen. Und das nur, um später und meist für den Rest des Berufslebens, darunter zu leiden. Tilda dachte in diesem Moment an ihre Schwester Dorothea, die trotz ihrer drei Kinder immer gearbeitet hatte und die es als selbstverständlich ansah, dass ihr Mann das auch unterstützte. Tilda wusste, dass ihre Eltern oft genug die Zähne zusammenbeißen mussten, um ihren Weg weiterzugehen. Das war sicher nicht leicht für sie gewesen. Es war auch ein Grund dafür, dass Tilda jetzt nichts ferner lag, als ihnen mit ihren Beschwerden die Ohren voll zu heulen. Von ihnen hatte sie gelernt, dass es wichtig war, sich nicht gehen zu lassen und Haltung zu bewahren.
Auch jetzt, mehr als ein Jahr nach ihrem Eintritt in den Ruhestand, wirkten Brigitte und Thomas