Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
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Vielleicht war es nicht gut, ihn überhaupt damit zu behelligen. Tilda wusste im Grunde gut genug, dass er kein Verständnis für ihre „irrationalen“ Ängste haben würde. Vermutlich würde er einfach wieder irgendetwas Beschwichtigendes zu ihr sagen. Solche Worte halfen ihr nicht weiter. In ihr verstärkte sich die Wut darüber, dass Ludwig so ein Holzklotz war. Während sie vor Angst fast verging, hatte er nichts Tröstlicheres für sie, als ihr zu sagen, dass sie sich nicht aufregen solle, um sich dann seelenruhig etwas zu Essen zu machen. Wenn es ihn selbst betroffen hätte, dann wäre seine Einstellung sicher eine komplett andere gewesen. Tilda war überzeugt davon. In dieser Hinsicht maß er schon immer mit zweierlei Maß.
Je länger Tilda so dalag, desto größer wurde ihre Enttäuschung über Ludwigs Verhalten. Sie konnte nur schwer mit dem Gefühl umgehen, dass sie ihm in Wahrheit gar nicht so wichtig war. Das war eine traurige und gleichzeitig erschreckende Erkenntnis. Natürlich würde Ludwig eine derartige Anschuldigung weit von sich weisen. Er würde sich unschuldig an den Pranger gestellt fühlen, sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Natürlich war er sensibel! Natürlich, aber leider nur, wenn es um ihn selbst ging.
In dieser Schärfe konnte Tilda das bisher nur noch nie sehen. Möglicherweise wollte sie das auch gar nicht. Sie war sich sicher, dass sie es ihrem inneren Ausnahmezustand zu verdanken hatte, dass ihr ihre Situation jetzt so deutlich sichtbar wurde. Das erklärte auch, warum sie sich so hilflos und allein fühlte. Tilda setzte sich mühsam auf. Sie war innerlich aufgewühlt und tief verletzt. Es war eine Mischung von Erkenntnis, Enttäuschung und Angst, die ihr das Gefühl gab, dass Elektrizität durch ihren Körper fließen würde. Sie spürte ein merkwürdiges, unheilvolles Vibrieren in sich. Es summte und brummte in ihren Zellen wie in einem Bienenstock. Erstaunlicherweise war es ein Gefühl, das sie nur körperlich wahrnehmen konnte. Zu hören war nichts. Tilda ließ sich kraftlos zurück auf ihr Bett fallen, drehte sich zur Wand und schluchzte in ihr Kopfkissen.
Am Morgen des nächsten Tages war sie wieder viel zu früh wach. Sie hatte einmal mehr das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Die ganze Nacht lang hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Mal war ihr zu warm, mal zu kalt gewesen und währenddessen rannten ihre Gedanken wild durcheinander. Sie war unfähig gewesen, dieses Chaos zu stoppen. Und was tat Ludwig? Er schlief und schnarchte neben ihr und ließ sich überhaupt dabei nicht stören. Ironisch schlussfolgerte Tilda daraus, dass er vermutlich so gut schlafen konnte, weil er so „einfühlsam“ war. Bei diesem Gedanken hätte sie auf der Stelle erneut losheulen können. Doch diesmal schaffte sie es, sich zu beherrschen.
Voller Befürchtungen sah sie den Tag auf sich zurollen. Sie hatte ein schreckliches Gefühl dabei. Wenn sie darüber nachdachte, dass ihre Welt um diese Uhrzeit am Tage zuvor noch weitgehend in Ordnung gewesen war, dann konnte sie sich das jetzt kaum noch vorstellen. Es schien ihr eine Ewigkeit lang her zu sein. Nichts war für sie mehr so, wie es gewesen war. Es war der Tag, an dem sich herausstellen würde, wie ihr Leben vermutlich weiterging. Unkonzentriert bereitete sie wenig später das Frühstück für Ludwig und für sich vor. Sie riss das Kalenderblatt vom Vortag ab. „Mit leerem Kopf nickt es sich leichter“, stand dort für diesen neuen Tag, den zwölften Mai, geschrieben.
Mit leerem Kopf nickt es sich leichter. Nur kurz trat dieser Kalenderspruch wieder in ihr Bewusstsein, als sie später im Wartezimmer des Krankenhauses saß und nervös versuchte, an nichts Schlimmes zu denken. Sie hatte das Zimmer Nr. 254 im Seitenflügel schnell gefunden. Es lag in unmittelbarer Nähe zu den MRT-Räumen. Auch die riesige grüne Krankenschwester mit dem Doppelkinn und der dunkelbraunen Betonfrisur von gestern hatte Tilda schon gesehen. Also war sie richtig dort. Sie war eine halbe Stunde zu früh gekommen. Sie war viel zu nervös gewesen, um zu Hause zu warten. Der Druck in ihrem Oberbauch war an diesem Morgen wieder besonders heftig gewesen und auch die Übelkeit quälte sie. Tilda versuchte, das mit ihrer großen Nervosität zu begründen. Tapfer hatte sie sich trotzdem zu Hause ein kleines Frühstück heruntergequält. Zum Glück verschonte sie der Durchfall sie an diesem Morgen.
Außer ihr war niemand im Raum. Sie war ganz allein im Wartezimmer. Das Durcheinander der Zeitschriften auf dem Tischchen in der Ecke und die Position der Stühle deuteten allerdings darauf hin, dass schon Patienten vor ihr dagewesen sein mussten.
Nachdem Ludwig zur Arbeit gefahren war, hatte sie es nicht mehr lange zu Hause ausgehalten. Es war zwar noch viel zu früh gewesen, aber sie war trotzdem schon aufgebrochen. Nun saß sie im Wartezimmer und hat das Gefühl, sich auf dem Weg zum Schafott zu befinden. Ihre Hände hatte sie unter ihre Oberschenkel geschoben, um sie etwas aufzuwärmen. Sie fühlten sich eiskalt an, wie erfroren. Dasselbe traf auch auf ihre Füße zu, obwohl sie extra ihre Halbstiefel angezogen hatte. Sie wurde einfach nicht warm. Normalerweise trug sie Mitte Mai keine Stiefel mehr. Aber seit dem Vortag fror sie unablässig. Es war keine Kälte, die von außen kam. Es war eine Kälte, die sich irgendwie aus ihrem Innern heraus Bahn brach. Sie war so intensiv und so anhaltend, dass sie ein Gefühl in Tilda verursachte, als wäre alles Leben in ihr zum Erliegen gekommen. Unbeweglich saß Tilda auf ihrem Wartezimmerstuhl direkt neben der Tür. Sie hatte sich ein großes buntes Seidentuch um den Hals geschlungen, das in deutlichem Kontrast zu ihrer schlichten weißen Bluse und zu ihrem fast ebenso weißen Gesicht stand. Damit fühlte sie sich wohler und war froh, es mitgenommen zu haben. Nervös drehte sie unablässig eine blonde Haarsträhne unterhalb ihres rechten Ohres um ihren Zeigefinger. Die Wartezeit wurde ihr zur Ewigkeit. Die große Uhr an der Wand, die so aussah, als gehörte sie eigentlich in einen Bahnhof, tickte unermüdlich vor sich hin und nur der rote Sekundenzeiger schien sich wirklich zu bewegen. Tilda fühlte sich wie in einer Art Zeit-Vakuum, seitdem sie sich im Schwesternzimmer gegenüber angemeldet hatte. Eine freundliche, dunkelhaarige Schwester mit osteuropäischem Akzent und hohen Wangenknochen hatte sie in Empfang genommen und sie in das Wartezimmer gegenüber geschickt. Vielleicht hatten alle schon vergessen, dass sie hier saß? Vielleicht war ihr Eintreffen irgendwie untergegangen und nun hockte sie hier und wartete und wartete? Die große Bahnhofsuhr an der Wand gegenüber tickte weiter mit stoischer Gelassenheit und zeigte erst 9.15 Uhr. Das war immer noch eine Viertelstunde zu früh. Tilda zwang sich, realistisch zu bleiben. Es gab überhaupt keinen Grund dazu anzunehmen, dass sie vergessen worden war.
Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, die wie die Uhr gegenüber zeigte nur zehn Minuten lang war, kam die riesige grüne Schwester hereingepoltert, indem sie die Tür aufriss und erneut den gesamten Türrahmen ausfüllte. Tilda fühlte sich gegen sie wie ein winziger, farbloser Zwerg. „Frau Johannsen? Kommen sie!“ polterte sie los wie ein Feldwebel. Tilda nickte nur stumm und erhob sich. Die Schwester stampfte vor ihr her in das Behandlungszimmer gegenüber.
Ein eisgrauer, sehr schlanker Arzt um die Fünfzig mit Knittern im Gesicht und einem weinroten Stethoskop um den Hals, betrat genau in diesem Moment ebenfalls das Behandlungszimmer von einer Seitentür aus. Er trug weiße Hosen und weiße Schuhe, dazu eine grüne OP-Jacke. Er streckte Tilda die Hand entgegen und stellte sich mit „Dr. Schnitzer, Onkologe. Guten Tag!“ vor. Dann wies er wortlos auf einen von zwei Stühlen, der dem seinen am Schreibtisch gegenüberstand. Er setzte sich ebenfalls und die grüne Riesenschwester legte eine Mappe vor ihn auf den Schreibtisch. Eine andere Krankenschwester mit ganz kurz geschnittenem, rotblondem Haar, rosafarbenem Kittel und einem bildhübschen Mädchengesicht schwebte herein, griff nach einer Mappe vom Seitenbord, warf einen Blick darauf und verschwand genauso lautlos mit ihr, wie sie gekommen war. Tilda fröstelte immer noch. Es war kalt im Zimmer. Die grüne Riesenschwester schien das auch so zu sehen. Bevor sie hinausging, schloss sie das angekippte Fenster mit einem so lauten Ruck, als wollte sie den Griff vom Beschlag abreißen. Danach schoss sich die Tür hinter ihr und sie war verschwunden. Dr. Schnitzer begann aufmerksam in der Akte vor sich zu blättern. An der Seite des Raumes befand sich eine Reihe großer, beleuchteter Milchglasscheiben, die offensichtlich zur Betrachtung