Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon

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was Tilda sich vorgestellt hatte. Doch welche Alternativen hatte sie? Im Park war es nun ganz still. Nur weiter hinten fuhren zwei kleine Jungen beaufsichtigt von ihrem Vater mit kleinen Kinderrädern die Wege entlang. Ein Hund bellte. Niemand war in ihrer Nähe. Nur die Bäume rauschten leise und einige brummende Insekten machten sich neben der Bank an den ersten Blüten im Beet zu schaffen. Alles wirkte so entspannt, aber Tilda hatte überhaupt keinen Blick mehr dafür.

      Um diese Zeit war sie normalerweise in der Schule und würde vermutlich jetzt, zur Mittagszeit, im Lehrerzimmer wie immer einen Tee mit den Kollegen trinken. Verwundert stellte sie fest, dass es ihr so vorkam, als sei sie schon ewig nicht mehr dort gewesen. Als sei die Schule bereits aus ihrem Leben ausradiert. Dabei hatte sie vor zwei Tagen noch ganz normal unterrichtet. Es war, als habe ihr Unterbewusstsein schon damit abgeschlossen, Lehrerin zu sein. Merkwürdigerweise interessierte es sie diesmal gar nicht, wer von den Kollegen es war, der ihre Vertretungsstunden übernehmen musste oder wie es überhaupt beruflich für sie weitergehen würde. Nur ihre Großmutter, die hatte immer gesagt, dass im Leben letzten Endes alles einen Sinn machen würde. Tilda fragte sich jetzt natürlich, was für einen Sinn es machen würde, wenn sie im Alter von dreißig Jahren sterben würde. Sie konnte nicht einen einzigen Grund finden, wozu das gut sein sollte. Mit dieser Weisheit hatte Omi wohl nicht Recht gehabt. Aber vielleicht war es noch zu früh. Vielleicht würde sie den Sinn ihrer Krankheit noch herausfinden. Vielleicht brauchte sie einfach Zeit, um hinter das Geheimnis ihres Lebens zu kommen. In diesem Augenblick hoffte sie ganz stark, dass ihr die Zeit zur Erkenntnis noch bleiben würde.

      Verunsichert dachte Tilda darüber nach, ob die Frage vielleicht gar nicht die war, wie sie mit der Botschaft des Krebses in ihrem Körper umgehen sollte, sondern vielmehr zunächst eine andere: Wie sollte sie es anstellen zu überleben? War es am Ende eine Schicksalsfrage, die den Sinn ihrer Krankheit ausmachte? Es wäre das einzige gewesen, was in Tildas Augen überhaupt einen Sinn gemacht hätte. Jetzt zu sterben machte für sie jedenfalls keinen Sinn.

      Schließlich blieb also immer noch die Frage, wie sie es schaffen sollte, den Krebs zu überleben, während fast alle anderen daran starben. Tilda versuchte sich an alle Freunde und Bekannten zu erinnern, die irgendwann einmal in ihrem Leben Krebs gehabt hatten. Es dauerte eine ganze Weile und es waren nicht wenige die ihr einfielen. Letzten Endes waren sie aber alle gestorben oder es ging ihnen mittlerweile so schlecht, dass das Schlimmste für sie zu befürchten war. Manche waren schon kurz nach ihrer Diagnose gestorben und manche erst nach einigen Jahren, als sie sich schon geheilt wähnten. Doch irgendwann dann war der Krebs zu ihnen zurückgekehrt wie ein Flächenbrand in einen trockenen Wald und dann hatte es keine Rettung mehr für sie gegeben. Sie alle hatten Chemotherapie bekommen. Die meisten von ihnen hatten zusätzlich Bestrahlungen erhalten. Es war eine beängstigende Statistik, die sich da in Tildas Kopf zusammenfügte. Da gab es nur die beiden Kolleginnen, die ihren Brustkrebs schon mehr als 10 Jahre überlebt hatten. Vielleicht waren sie tatsächlich geheilt. Eine von ihnen war Margarete, die an ihrer Schule Mathematik unterrichtete und die andere, Marion, war inzwischen bereits im Ruhestand. Soviel Tilda wusste, ging es ihr immer noch gut. Wenn Margarete und Marion die einzigen Personen waren, die überlebt hatten, was bedeutete dann der Tod all der anderen für sie? Und was bedeutete es überhaupt, wenn die moderne Medizin sagte, Krebs sei heutzutage „gut behandelbar“? Heilbar war damit jedenfalls offenbar nicht gemeint.

      Ein Paar im Alter ihrer Eltern lief gemächlich an der Bank vorbei, auf der Tilda immer noch saß. Sie sah den beiden nach, bis sie hinter der hohen Ligusterhecke verschwunden waren, die den neuen vom alten Teil des Parks trennte. Irgendwann in dieses Alter zu kommen würde ihr also verwehrt bleiben. Der Gedanke bereitete ihr Schmerzen, die sich wie ein Stich ins Herz anfühlten. In diesem Moment war sie an einem absoluten Tiefpunkt angekommen.

      Unerwartet klingelte ihr Telefon. Widerwillig stellte Tilda sich ihre Handtasche auf den Schoß und kramte darin herum. Irgendwann hatte sie das Telefon gefunden, doch im selben Moment verstummte das Klingeln. Ludwig hatte sie angerufen. Sie konnte es auf dem Display sehen. Entschlossen stellte sie ihr Telefon auf stumm und verbannte es zurück in die Abgründe ihrer Handtasche. Sie wollte nicht mit Ludwig sprechen. Jetzt nicht. Vielleicht später. Tildas Blick ging über die Rabatten hinweg auf die große Rasenfläche, wo ein Herr mittleren Alters mit einem Hund Stöckchen-Holen übte. Das musste wohl der Hund gewesen, dessen Gebell sie vorhin gehört hatte. Es war ein kleiner Jack Russel, der vollkommen außer Rand und Band zu sein schien. Eigentlich wollte sie später auch immer einen Hund haben. Dazu würde es nun wohl nicht mehr kommen. Die Vorstellung schnitt wie ein Messer in ihr Fleisch. Plötzlich war der noch nicht zu Ende gedachte Gedanke von vorhin wieder in ihrem Kopf. Wenn also alle Menschen oder fast alle Menschen, die Krebs hatten, früher oder später daran starben, obwohl sie alle angebotenen Therapien gemacht hatten, dann würde das sicher nicht der richtige Weg für sie sein. Möglicherweise gab es mehr Menschen, die ihren Krebs überlebt hatten. Vielleicht. Nur sie kannte außer Margarete und Marion eben keinen von ihnen. Sie kannte dafür allerdings sechs Menschen, die gestorben waren. Zwei zu sechs, das war keinesfalls das, was man eine einigermaßen gute Prognose nennen konnte. Tilda holte tief Luft. Die angenehme Frische des Frühlingstages strömte in ihre Lungen. Zwei zu Sechs. Diese Vorstellung machte sie verzagt. Eine Gänsehaut breitete sich in Sekundenschnelle über ihren gesamten Körper aus.

      Zwei junge Mädchen liefen kichernd auf dünnen Beinen vorbei, tuschelten und neckten sich. Tilda beneidete sie um ihre Unbeschwertheit. Als sie in diesem Alter gewesen war, dachte sie auch noch an nichts Böses und war gesund. In diesem Alter machte man sich keine Gedanken um Krankheit oder Tod. Tilda lauschte in sich hinein. Wie lange würde sie noch leben? Wie lange würde sie noch atmen können? Wie lange reichte ihre Kraft noch? Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte eine sehr hohe Sterblichkeitsrate. Sogar ohne nachlesen zu müssen, wusste sie das. Noch deutlicher machte ihr das bewusst, wie schlecht ihre Aussichten waren. Verzweifelt richtete sie ihren Blick in die Ferne und fragte sich, was sie jetzt wohl tun sollte. Niemand würde ihr die Entscheidung abnehmen, wie es für sie weiterging. Das jetzt selbst festlegen zu müssen war für Tilda eine unerträgliche Vorstellung. Sie beschloss erst einmal, sich auf keinen Fall zu etwas drängen zu lassen. Wenn sie ihren gesunden Menschenverstand zu Rate zog, so stand sie der angebotenen Therapie mehr als skeptisch gegenüber.

      Und doch musste sie für sich einen Weg aus dem Dilemma finden. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Sie selbst würde die Konsequenzen für all das tragen müssen, was sie bezüglich ihrer Krankheit entschied. Auch dann, wenn sie sich für die Chemotherapie entschied. Die Klink würde keine Verantwortung für ihre Therapie übernehmen, weder für den Erfolg, noch für den Misserfolg und auch nicht für die körperlichen Folgeschäden, die sie möglicherweise davontrug. Vorausgesetzt natürlich immer der Fall, dass sie überleben würde. Das alles war ein einziger Alptraum. Tilda wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich daraus zu erwachen.

      Was sie verwunderte war, dass sie das alles plötzlich so klar und realistisch betrachten konnte. Es war wohl einfach ein Instinkt des Menschen, der dafür verantwortlich war. Ein Instinkt, der den Menschen zwang, realistisch zu werden, wenn er seinen Tod so unmittelbar vor Augen hatte. Tilda fischte den Patientenbrief für Dr. Umlauf aus ihrer Handtasche. Er war zugeklebt. Vorsichtig öffnete sie ihn auf der Rückseite, faltete dann die drei Bögen Papier auseinander und versuchte, sich durch den Text mit den medizinischen Fachausdrücken zu arbeiten. Eine Böe erfasste das Papier und riss es ihr fast aus den Händen. Tilda las das Schriftstück dreimal von Anfang bis zum Ende durch. Da stand zweifellos genau das, was ihr der Onkologe vorhin schon erklärt hatte. Ein Tumor in der Bauchspeicheldrüse und verdächtige Areale, dazu ein infiltriertes Bauchfell. Was das bedeutete, konnte Tilda nur erahnen. Therapieempfehlung: da inoperabel Empfehlung zu mehrerer Zyklen Chemotherapie mit „Gemcitabin“ als Palliativtherapie, außerdem Radiotherapie nach weiterer Entwicklung. Beginn: umgehend, nach Festlegung der genauen Dosierung durch die Tumorkonferenz in der nächsten Woche. Gezeichnet, Unterschrift, Anhänge…. Tilda war schweißgebadet. Ihre Bluse klebte ihr unter der Jacke am Körper. Schweißperlen waren auf ihre Stirn getreten. Sie bemerkte, wie ein knoblauchartiger Geruch sich um sie herum ausbreitete. Selbst durch all ihre Sachen hindurch nahm sie ihn deutlich wahr. Ihr Schweiß stank

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