Rechtsgeschichte. Stephan Meder

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Rechtsgeschichte - Stephan Meder

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der Zwölf Tafeln an die veränderte Lebenswirklichkeit ist eine Regelung, wonach der Eigentümer eines Vierfüßers (quadrupes) für Schäden haftet, die dieser durch seine Wildheit verursacht hat. In solchen Fällen konnte der Geschädigte mit der actio de pauperie, einer bereits in den Zwölf Tafeln (VIII, 6) bezeugten Klage, Ansprüche gegen den Eigentümer geltend machen. Nun waren infolge der geographischen Ausdehnung des Reiches in Rom bald auch exotische Tiere anzutreffen, von denen die Verfasser der Zwölf Tafeln – wenn überhaupt – nur sehr undeutliche Vorstellungen haben konnten. In bestimmten Kreisen der römischen Gesellschaft war es vorübergehend Mode geworden, sich einen nordafrikanischen Vogel Strauß zu halten und im Garten frei herumlaufen zu lassen. Ein solcher Strauß hat während eines Gartenfests die Frau eines ehemaligen Konsuls gebissen. Als sie mit der actio de pauperie gegen den Eigentümer vorgehen will, wendet dieser ein, ein Vogel sei kein Vierfüßer. Die Geschädigte meint dagegen, Biss sei Biss, und darauf, ob der Biss von einem Vier- (quadrupes) oder Zweifüßer (bipes) herrühre, dürfe es nicht ankommen. [<<60]

      Nach der Einteilung des Pomponius gliedert sich das Recht der altrömischen Zeit in drei Teile: Zwölftafelgesetz, Auslegung und Legisaktionen (D. 1.2.2.6). Legisaktionen sind gesetzliche (legis) Klageformeln (actiones). Einige solcher Klageformeln finden sich bereits in den Zwölf Tafeln. Die Mehrzahl der Legisaktionen (legisactiones) ist aber erst später aus den Vorschriften der Zwölf Tafeln entwickelt worden. Pomponius sagt, dies geschah, um den Menschen die Austragung ihrer Rechtsstreitigkeiten zu ermöglichen: Die Klageformeln seien zahlenmäßig begrenzt und feierlich-förmlich (certas solemnesque) gewesen, damit sie nicht nach Belieben erhoben werden können (D. 1.2.2.6). Wo die Rechtsordnung keine Klagemöglichkeit (actio) vorsah, gab es also auch kein subjektives Recht. Die Schilderung des Pomponius lässt auf zu geringe Kapazitäten des alten Gerichtswesens schließen. Die Organisation eines überparteilichen Dritten kam den Bedürfnissen der Bevölkerung offenbar so sehr [<<61] entgegen, dass die steigende Nachfrage nach verbindlicher Konfliktlösung eine Vermehrung der Klagemöglichkeiten erforderlich machte (vgl. 1. Kapitel 3, S. 47.). Es ist oft bemerkt worden, dass in Rom die Verbindung von Prozessrecht und materiellem Recht sehr viel enger war als wir es heute für möglich halten. Einer der Gründe hierfür mag darin liegen, dass die Steuerung des Zugangs zur knappen Ressource Gerichtsbarkeit über die Legisaktionen erfolgte.

      Als Beispiel für eine altrömische Legisaktion sei hier nur die legis actio sacramento genannt. Aus ihr haben sich in der Praxis die actiones in personam und actiones in rem herausgebildet, die zur Grundlage der Unterscheidung von persönlichen und dinglichen Rechten geworden sind. Die rein sachverfolgende actio in rem ist ein Vorläufer der rei vindicatio: Der Kläger braucht nur zu behaupten, die an die Gerichtsstätte (in iure) gebrachte, streitbefangene Sache gehöre ihm (S. 34). Bei nicht transportablen Sachen gilt pars pro toto (Gaius IV, 17): Ein Grundstück wird durch einen Ziegel oder eine Handvoll Erde repäsentiert. Auch für den Legisaktionenprozess gilt: Die Spruchformeln müssen wortwörtlich und genau in der vorgeschriebenen Weise aufgesagt werden (vgl. Gaius IV, 11). Wer sie nicht beherrscht oder sich verspricht, läuft Gefahr, den Prozess zu verlieren (vgl. S. 132). Das Verfahren war nur römischen Bürgern zugänglich. Bei Rechtsstreitigkeiten mit Ausländern (z. B. Tafel II, 2) ist es wahrscheinlich etwas lockerer zugegangen.

      Die Ständekämpfe zwischen Plebejern und Patriziern sind nach Veröffentlichung der Zwölf Tafeln nur vorübergehend abgeklungen. Der dadurch erhoffte Gewinn an Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit war nicht von langer Dauer (1. Kapitel 1, S. 27.). Gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. erreichte der Kampf von Angehörigen einflussreicher plebejischer Familien um den Zugang in die regierende Adelsschicht einen neuen Höhepunkt. Zwar mussten die Pontifices sich nun dem Buchstaben des Gesetzes unterwerfen. Dies hinderte sie aber nicht, die Rechtspflege bald wieder im Stil einer Geheimwissenschaft zu betreiben. Die interpretatio [<<62] eröffnete Spielräume für Entscheidungen, die über den Wortlaut des Gesetzes weit hinaus gingen. Der Bedarf an neuen Problemlösungen war derart angewachsen, dass die Pontifices mit der Kompetenz zur Auslegung faktisch die Herrschaft über die gesamte Rechtsfortbildung erlangten. Es ist kein Zufall, dass in der Geschichte des Rechts immer wieder Versuche unternommen wurden, die Auslegungskompetenz von Juristen zu beschneiden oder Auslegung und Kommentierung von Gesetzen ganz zu unterbinden. Bekannte Beispiele sind die von Justinian und von Friedrich dem Großen angeordneten Kommentierungsverbote (4. Kapitel 5.1, S. 114; S. 285). Die Pontifices haben aber nicht nur die Zwölf Tafeln ausgelegt, sondern auch die Klagen (legis actiones) formuliert. Diese Klagen durften nur an festgesetzten Tagen (Kalender) erhoben werden. Auch hier waren ausschließlich sie mit den genauen Einzelheiten vertraut.

      Nach der römischen Überlieferung ist die Machtstellung der Pontifices im Jahre 304 v. Chr. durch Gnaeus Flavius gebrochen worden. Gnaeus Flavius war bei dem berühmten Patrizier Appius Claudius Caecus als Schreiber angestellt, der sich näher mit den Klageformeln beschäftigt und sie in Buchform gebracht hat. Dieses Buch soll Gnaeus Flavius heimlich entwendet und dem Volk übergeben haben (D. 1.2.2.7). Außerdem soll er die Termine der Gerichtstage (Kalender) der Öffentlichkeit bekannt gemacht haben. Ohne Kenntnis der Kalender wäre das Wissen um die Formeln nutzlos gewesen. Auf Grund der Taten des Gnaeus Flavius waren Rechtsunkundige nicht mehr in jedem Fall auf Beratung durch die Pontifices angewiesen. Sie konnten sich nun – in gewissen Grenzen – selbst orientieren.

      Um 300 v. Chr. öffnet man den Plebejern endlich den Weg zu den Priesterämtern der Pontifices und Auguren (lex Ogulnia). Allmählich lockert sich die enge Verflechtung von religiösem und weltlichem Leben und man sucht die Rechtspflege mehr nach rationalen Gesichtspunkten zu organisieren. Der Prätor wird zum „Hüter des Zivilrechts“ (Cicero, [<<63] De legibus, III § 8). Die sogenannten Jurisdiktionsmagistrate schaffen im Rahmen ihrer Rechtsprechungsgewalt (iurisdictio) von Fallgruppe zu Fallgruppe neue Klagemöglichkeiten. Zur iurisdictio ist der Stadtprätor befugt, dem schon bald ein Fremdenprätor zur Seite gestellt wird (vgl. 2. Kapitel 4, S. 66.). Daneben besteht eine besondere Zuständigkeit der kurulischen Ädilen für den Markthandel. Da die Magistraturen Ehrenämter (honores) sind, nennt man das Amtsrecht der Prätoren und der kurulischen Ädilen in seiner Gesamtheit ius honorarium. Das ius honorarium tritt neben das überkommene ius civile und gewinnt zumal für den Rechtsverkehr mit Ausländern erhebliche Bedeutung.

      Der Prätor entscheidet über die Zulassung der Klage (actio) und bestimmt den Richter (iudex), der die Beweisaufnahme durchzuführen und das Urteil zu fällen hat.

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