Rechtsgeschichte. Stephan Meder

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Rechtsgeschichte - Stephan Meder

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Das durch Interpretation erzeugte Recht wächst schnell, es ist viel umfangreicher und bald auch zunehmend verschieden von dem Text, an den es sich zunächst anhängt, den es aber mehr und mehr verdrängt, um sich schließlich seines Platzes zu bemächtigen.

      Durch die bloße Verschriftlichung mündlich überlieferten Rechts entsteht also nicht schon Zivilrecht. Das Zwölftafelgesetz ist weder Bruch noch Nullpunkt oder Geburt, sondern Zwischenstation auf dem langen Weg der Entwicklung des römischen Rechts. In der Geschichte des Rechts gibt es keine tabula rasa. Wir schreiben immer auf eine Tafel, auf die schon vieles geschrieben, gelöscht und wieder neu geschrieben wurde – auch wenn die Tafel in der mündlichen Überlieferung besteht. Pomponius hat die Tatsache, dass der Gesetzestext zum Gegenstand fachkundiger Auslegung geworden ist, in ihrer Bedeutung zutreffend gewürdigt. Die Bildung eines Textkanons wäre demnach das strukturelle Merkmal von Zivilrecht und die um das Zwölftafelgesetz sich rankende Interpretation typische Erscheinung einer Rechtskultur, die zunehmend durch Denkformen der Schriftlichkeit geprägt wird. [<<56]

      Träger der interpretatio sind zunächst die Pontifices. Durch die Anwendung der vorhandenen Gesetze und die Aus- und Fortbildung von Spruchformeln und Geschäftsritualen haben sie die Anfänge eines Juristenrechts geschaffen, das Denkstil und Technik der sich anschließenden profanen Jurisprudenz entscheidend prägen wird. Das Ziel einer möglichst gesetzestreuen Anwendung der Zwölf Tafeln erreichen die Pontifices jedoch häufig nur über Konstruktionen, die uns heute als sehr künstlich erscheinen. Ein Beispiel für die Ambivalenz von Wortkult und Auslegungsabsicht bildet die Emanzipation von Kindern aus der Gewalt des Vaters.

      Dass die Macht des pater familias über die in seiner Gewalt stehenden Abkömmlinge bis zu seinem Tod oder dem der Kinder währte, ist bereits ausgeführt worden (S. 42). Nach den Zwölf Tafeln bestand keine Möglichkeit zur freiwilligen Beendigung dieses Verhältnisses. Es gab lediglich eine Bestimmung, die darauf zielte, dem Missbrauch der Gewalt des Vaters entgegenzuwirken (vgl. Tafel IV, 2):

      Wenn ein Vater seinen Sohn dreimal zum Verkauf gegeben hat, soll der Sohn von der väterlichen Gewalt frei sein (si pater filium ter venum duit, filius a patre liber esto).

      Ein solcher mehrfacher Verkauf war möglich, weil der Sohn in die Gewalt des Vaters zurückfiel, wenn der Käufer ihn freiließ. Um nun eine freiwillige Beendigung des väterlichen Gewaltverhältnisses zu erreichen, wurde die eigentlich eindeutige Regelung der Zwölf Tafeln so ausgelegt, dass sie einem ursprünglich gar nicht vorgesehenen Zweck dienen konnte: Der Vater verkaufte dreimal zum Schein seinen Sohn – etwa an einen Freund –, nach jedem Verkauf ließ der Freund den Sohn wieder frei, so dass dieser nach dem dritten Verkauf aus der väterlichen Gewalt entlassen (sui iuris) und somit vermögensfähig war. Man vermutet, dass diese Art von Freilassung ursprünglich deshalb vorgenommen wurde, [<<57] um eine Zersplitterung des bäuerlichen Besitztums durch Erbteilung zu verhindern. In modifizierter Form diente die emancipatio später auch der Entlassung von Töchtern, Enkeln oder Frauen aus dem väterlichen oder ehelichen Gewaltverhältnis. Zur Bezeichnung der Freisetzung aus einem Zustand der Abhängigkeit hat sich der Begriff der Emanzipation bis heute erhalten.

      Ein weiteres Beispiel dafür, wie durch eine Nachformung vorhandener Regeln dem Recht neue Gestaltungsmöglichkeiten erschlossen werden, bildet die in iure cessio. Die in iure cessio, eine Art Scheinrechtsstreit vor dem Magistrat, zeigt zugleich, dass gerade mit den Mitteln des juristischen Formalismus das ius civile an neue soziale und wirtschaftliche Erfordernisse angepasst wurde.

      In alter Zeit bedeutete ius der eingehegte Platz auf dem Forum, auf welchem der Magistrat seine Gerichtsgewalt ausübte. In iure heißt „auf der Gerichtsstätte“ und in iure cessio „Abtretung vor Gericht“. Noch heute sprechen wir von Zession, wenn Rechte abgetreten werden, obwohl die modernen Vorschriften der §§ 398 ff. BGB mit dem umständlichen Ritual der in iure cessio kaum etwas gemein haben. Genau genommen ist die in iure cessio nicht nur ein Geschäft zur Abtretung, sondern auch zur Übertragung oder Aufhebung bestimmter Rechte. Der Akt beginnt wie ein um die Herausgabe eines Gegenstandes geführter Rechtsstreit (vindicatio): Soll ein Gegenstand übereignet werden, erscheinen Veräußerer und Erwerber mit dem Gegenstand vor dem Gerichtsherrn, der Erwerber spricht die Vindikationsformel des Klägers: Ich behaupte, dass dieser Sklave [als Beispiel] nach quiritischem Rechte mein sei (hunc ego hominem ex iure Quiritium meum esse aio). Im Prozess müsste der Gegner hierauf mit einer gleichartigen contravindicatio antworten, in der er seinerseits Eigentümer zu sein behauptet. Bei der in iure cessio unterlässt der Veräußerer jedoch diese Gegenbehauptung, er verhält sich also wie ein Beklagter, der die Klagebehauptung des Gegners anerkennt. Er schweigt oder gibt das Eigentum des [<<58] Erwerbers (formlos) zu. Daraufhin bestätigt der Gerichtsherr die Eigentumsbehauptung des Erwerbers.

      Das Ritual der in iure cessio enthält weitgehende Übereinstimmungen mit dem der mancipatio. Ihr Vorteil gegenüber der Manzipation liegt in der vielseitigen Verwendbarkeit. Sie dient vor allem der Übertragung von Eigentum, und zwar gerade auch an solchen Sachgütern, die im Wege einer mancipatio nicht hätten erworben werden können (res nec mancipi). Allerdings sind mit der in iure cessio auch Nachteile verbunden, die wohl dazu geführt haben, dass sie schon in der klassischen Zeit außer Übung kam. Gaius hat diese Nachteile auf den Punkt gebracht (II, 25):

      Meistens jedoch, ja fast immer, bedient man sich der Manzipationen, was man nämlich selbst in Gegenwart von Freunden vornehmen kann, das braucht man nicht erst mit größerer Schwierigkeit beim Prätor oder beim Provinzialstatthalter zu tun (plerumque tamen et fere semper mancipationibus utimur: quod enim ipsi per nos praesentibus amicis agere possumus, hoc non interest nec necesse cum maiore difficultate apud praetorem aut apud praesidem provinciae agere).

      In der hochklassischen Zeit haben die römischen Juristen die Methoden des begrifflichen Denkens und die Kunst der Auslegung von Normen weiterentwickelt und verfeinert. Die wachsende Kluft zwischen dem Wortlaut des alternden Gesetzes und der veränderten Lebenswirklichkeit führte zu der Einsicht, dass Gesetze nicht sämtliche in der Wirklichkeit vorkommenden Fälle erfassen können. Dieser Gedanke hat bis heute seine Gültigkeit bewahrt, wo wir oft mit über hundert Jahre alten Gesetzen Rechtsfragen lösen müssen, die der Gesetzgeber so nicht hat vorhersehen können. Der römische Jurist Julian (S. 87) hat im 2. Jahrhundert n. Chr. das Problem wie folgt charakterisiert (D. 1.3.12):

      Es können nicht alle Fallvarianten einzeln von den Gesetzen oder Senatsbeschlüssen erfaßt werden; wenn aber deren Sinn und Zweck auf irgendeinen [<<59] [neuen] Fall zutreffen, dann muß derjenige, der für die Rechtsprechung zuständig ist, zur Bildung einer analogen Regel fortschreiten und danach Recht sprechen (non possunt omnes articuli singillatim aut legibus aut senatus consultis comprehendi: sed cum in aliqua causa sententia eorum manifesta est, is qui iurisdictioni praeest ad similia procedere atque ita ius dicere debet).

      In eine ähnliche Richtung zielt das berühmte Fragment über systematische Auslegung des Juristen Celsus (S. 86), der ebenfalls im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte (D. 1.3.24):

      Es ist methodisch unzutreffend, die Entscheidung auf eine bestimmte Norm zu stützen, bevor man nicht das ganze Gesetz überprüft hat (incivile est, nisi tota lege perspecta, una aliqua particula eius proposita iudicare, vel respondere).

      Die römischen Juristen haben weder zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung noch zwischen extensiver Auslegung und Analogie klar unterschieden. Zur Vermeidung willkürlicher und sachfremder Rechtsbildungen

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