Rechtsgeschichte. Stephan Meder
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5. Römische Juristen der Frühklassik
Das ius honorarium hat das alte ius civile zwar nicht völlig verdrängt, aber doch zunehmend eingeschränkt. Mit dem flexibleren, durch den praetor urbanus geschaffenen Recht konnten die Lücken des in den Gesetzen niedergelegten, formstrengen Rechts gefüllt werden. Auf Grundlage des vornehmlich durch den praetor peregrinus geschaffenen Rechts ließen sich Regeln herauspräparieren, von denen man annahm, dass sie zum Bestand des Rechts aller zivilisierten Völker gehören. Nun waren aber sowohl der praetor urbanus als auch der praetor peregrinus Politiker. Sie waren juristische Laien, die in erster Linie für die förmliche Einleitung der Prozesse zu sorgen hatten. Auch die Richter und die Advokaten, [<<68] welche die Parteien im Prozess vertraten, hatten keine juristische Ausbildung genossen. Als das System der Prozessformeln und der ergänzenden Rechtsmittel in der späteren Republik komplizierter wurde, entstand ein Bedarf an Experten mit speziellen juristischen Kenntnissen (iuris consulti). Vom 3. Jahrhundert an kennen wir die ersten Fachjuristen mit Namen. Darüber hinaus wissen wir wenig über sie. Fest steht aber, dass sich schon bald eine Kultur der Auslegung und Kommentierung entwickelt hat, die über das alte ius civile hinaus noch auf andere Rechtstexte – etwa die prätorischen Edikte – Bezug nimmt. Die Erweiterung des Spektrums relevanter Texte ist von einem Prozess der sozialen Differenzierung begleitet, in dessen Folge sich eine neue Klasse intellektueller Eliten herausbildet. Zudem ist von Bedeutung, dass das Auftreten der ersten Fachjuristen Roms in die Zeit der Begegnung mit der griechischen Philosophie fällt.
5.1 Der Einfluss des Hellenismus
Die Auseinandersetzung mit dem Hellenismus hatte für den Aufstieg des römischen Rechts entscheidende Bedeutung. Der Hellenismus war damals eine hauptsächlich aus griechischen und orientalischen Elementen zusammengewachsene Spätkultur, die sich auf dem Boden des ehemaligen Reiches Alexanders des Großen (356 – 323 v. Chr.) im östlichen Mittelmeerraum zu einer wirtschaftlichen Macht entwickelt hat. Die Begegnung mit der griechischen Philosophie gab den römischen Juristen den ersten Anstoß für eine wissenschaftliche Behandlung des Rechts, die mit den Denkmitteln von Analyse und Synthese das innere System der Rechtsbegriffe zu erforschen sucht. Den Römern gebührt also das Verdienst, das von einer anderen Kultur außerhalb des Rechts erfundene methodologische Instrumentarium zur Lösung juristischer Problemstellungen fruchtbar gemacht zu haben. Auch konkrete Einrichtungen des griechischen Rechts hatten auf das römische Recht Einfluss. Dazu gehörten vor allem Rechtsinstitute, in denen die Schriftform eine besondere Rolle spielt. Die Schriftlichkeit hatte im griechischen Recht einen viel höheren Stellenwert als bei den Römern. So übernahm das römische Recht etwa die Beurkundung bestimmter privater Rechtsgeschäfte. [<<69] Griechische Einflüsse zeigt auch die rechtliche Erfassung des Bankwesens. Insbesondere im Bereich des sich bald ausbreitenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs wurden Schriftformerfordernisse zum unentbehrlichen Element rechtlicher Gestaltung. Insgesamt ist aber die aus der Philosophie stammende Methode begrifflichen Denkens der maßgebliche Faktor griechischen Einflusses. Sie erst ermöglicht es den römischen Juristen, Rechtsbegriffe und Rechtsprinzipien zu entwickeln, deren Überlegenheit darin besteht, dass sie sich den rasch wandelnden und in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich ausgeprägten Bedürfnissen der Praxis anpassen lassen.
5.2 Soziale Stellung und Tätigkeitsfelder
Die römischen Juristen waren wohlhabende Männer und von großem Ansehen. Sie stammten überwiegend aus vornehmen Plebejerfamilien und gaben ihre Kenntnisse an Jüngere weiter, so wie man in Rom immer Leute um sich versammelt hat, wenn man Macht und Ansehen gewinnen wollte. Sie erteilten unentgeltlich Privatpersonen, Magistraten und Richtern Gutachten (responsa). Erst später, in der Kaiserzeit, streben sie danach, mit ihrem Fachwissen auch die wirtschaftliche Existenz zu sichern. Ihre Arbeitsweise ist stark auf die Bedürfnisse der Praxis ausgerichtet. Durch ihre Gutachtertätigkeit erlangen sie wesentlichen Einfluss auf die Rechtsfortbildung der Prätoren und die Entscheidungen der Richter. Die Vertretung vor Gericht überlassen sie meist Rhetoren, von denen sie sich abzugrenzen wissen. Zur Tätigkeit der römischen Juristen gehört auch das cavere (daher Kautelarjurisprudenz), also die Gestaltung von komplizierten Verträgen, Prozessformularen oder Testamenten. Die ältesten Literaturformen sind der Gesetzeskommentar zu den Zwölf Tafeln, die juristische Monographie und das ordnende Lehrbuch. Die Sammlungen von Gutachten renommierter Juristen (Responsensammlungen) werden erst später, vornehmlich von Schülern, herausgegeben. Auch der Kommentar von Juristenschriften ist jüngeren Datums (S. 83). Die römischen Juristen haben sich mit Angelegenheiten aus den verschiedensten Rechtsbereichen befasst. Erhalten sind aber hauptsächlich Zeugnisse ihrer Tätigkeit im Privatrecht. [<<70]
5.3 Die Rechtsschulen der Sabinianer und Prokulianer
Am Anfang der frühklassischen Zeit steht einer der größten römischen Rechtsgelehrten: M. Antistius Labeo (1. Jahrhundert v./n. Chr.). Er war Sohn des Juristen P. Antistius Labeo, der an der Verschwörung gegen Caesar teilgenommen hatte und sich nach der Niederlage des Brutus von einem Sklaven töten ließ. Labeo filius war ein entschiedener Gegner des Prinzipats (S. 83). Er durchlief die Ämterlaufbahn lediglich bis zur Prätur. Danach wandte er sich dem Lehrbetrieb und einer umfangreichen literarischen Tätigkeit zu. Nach dem Bericht des Pomponius soll Labeo sechs Monate jeden Jahres in Rom mit seinen Schülern verbracht und sich die übrigen sechs Monate aufs Land zum Bücherschreiben zurückgezogen haben (D. 1.2.2.47). Labeo hatte einen Rivalen, Ateius Capito (gest. 22 n. Chr.), welcher ihn der „übertriebenen und wahnwitzigen Freiheitsliebe“ bezichtigte. Capito hatte zwar die Ämterlaufbahn bis zum Konsulat durchlaufen, war wissenschaftlich aber wenig produktiv gewesen.
Mit den Namen der folgenden Juristen verbindet sich der fast bis zum Ende der hochklassischen Zeit reichende Gegensatz der beiden Rechtsschulen der Sabinianer und Prokulianer. Anders als die meisten römischen Juristen stammt Sabinus nicht aus einer vermögenden Familie. Er muss von seinen Schülern unterhalten werden (D. 1.2.2.50). Sabinus steht in hohem Ansehen, obwohl er relativ wenig geschrieben hat. Sein Hauptwerk ist eine knappe Darstellung des Zivilrechts (iuris civilis libri tres), worauf die nachfolgenden Juristen ihre großen Kommentare gründen (S. 88). Das Haupt der rivalisierenden Schule heißt Prokulus (20 / 10 v. Chr.–50 / 70 n. Chr.). Er muss eine hervorragende Stellung in der Öffentlichkeit eingenommen haben (D. 1.2.2.52). Darüber hinaus ist kaum etwas über ihn bekannt geworden. Als Gründer der beiden Rechtsschulen nennt Pomponius Labeo und Capito:
Diese beiden begründeten als erste so etwas wie verschiedene Schulrichtungen. Denn Ateius Capito beharrte bei dem, was er gelernt hatte, Labeo dagegen mit seinem überragenden Verstand und im Vertrauen auf seine Bildung – er hatte sich auch mit den anderen Fächern der Wissenschaft beschäftigt – unternahm es, zahlreiche Neuerungen einzuführen (D. 1.2.2.47). [<<71]
Die Sabinianer und Prokulianer haben sich allerdings erst zwei Generationen später organisiert. Genau genommen waren Labeo, der als Schulhaupt der Prokulianer gilt, und Capito nicht Gründer, sondern geistige Ahnen der beiden Schulen. Die Frage nach den Eigenarten der Schulen ist bis heute ungeklärt. Offenbar handelt es sich weniger um Unterrichtsanstalten als um persönliche Vereinigungen führender Juristen mit ihren Schülern, die eine bestimmte wissenschaftliche Tradition pflegen. Die Kontroversen zwischen den Schulen