Rechtsgeschichte. Stephan Meder
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Der Gedanke der Wiedervergeltung kommt auch in Bereichen zum Tragen, in denen das Zwölftafelrecht die Todesstrafe verhängt. So heißt es etwa in Tafel VIII, 10:
Wer ein Haus oder einen neben das Haus gesetzten Getreidehaufen niederbrannte, soll, wenn er wissentlich und vorsätzlich gehandelt hat, in Ketten gelegt, verprügelt oder gegeißelt und durchs Feuer hingerichtet werden. Geschah die Tat aber mehr zufällig, d.h. infolge Fahrlässigkeit, so soll der Täter entweder den Schaden wiedergutmachen oder, wenn er weniger leistungsfähig ist, leichter bestraft werden (qui aedes acervumve frumenti iuxta domum positum combusserit, vinctus verberatus igni necari iubetur, si modo sciens prudensque id commiserit; si vero casu, id est negligentia, aut noxiam sarcire iubetur, aut, si minus idoneus sit, levius castigatur).
Die Hinrichtung spiegelt die Begehung des Verbrechens, was an den Talionsgedanken erinnert. Ferner fällt auf, dass unabsichtliches Verhalten bei der Bemessung der Strafe zugunsten des Verursachers berücksichtigt werden soll. An anderer Stelle sagen die Zwölf Tafeln, dass den Agnaten des Getöteten ein Schafbock zu stellen sei, „wenn der Speer mehr aus der Hand geflogen als geworfen ist“ (Tafel VIII, 24). Das Ziel einer Beschränkung der Rache kann also auch über ein stellvertretendes Objekt erreicht werden. Daneben wurden auch minderjährige Täter privilegiert. So zieht sich von Vorschriften der alten Zwöltafelgesetzgebung (z. B. Tafel VIII, 9, 14) eine Linie über die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das Kinder unter 12 Jahren für strafunmündig erklärte und für jugendliche Straftäter zwischen 12 und 18 Jahren eine obligatorische Strafmilderung vorsah. Dies bedarf in [<<45] Zeiten, in denen Fragen der Kinderdelinquenz und Herabsetzung von Strafbarkeitsgrenzen wieder in den Fokus öffentlicher Wahrnehmung gerückt sind, besonderer Hervorhebung.
Zusammenfassend und mit Blick auf die weitere Entwicklung lässt sich feststellen: Der älteste Zweck, der mit einer Vergeltung verfolgt wird, ist die Sühne für eine Unrechtstat (delictum), die jemand einer anderen Person gegenüber begangen hat. Auf diesen Zweck lässt sich auch die persönliche Haftung beim nexum zurückführen, wonach der Gäubiger auf den Körper des Haftenden greifen darf, wenn dieser nicht durch Rückzahlung des Darlehns gelöst wird. Ein Privatunrecht wird nach altem Recht durch die Rache des Verletzten gesühnt. Das Ziel dieser Rache ist ursprünglich auf die Tötung des Täters gerichtet. Das Zwölftafelgesetz sucht nun die Befugnisse des Verletzten einzuschränken, um den Täter vor unberechtigter Verfolgung zu schützen. Eine erste Einschränkung bildet die Talion. Hinzu kommt die Privilegierung unabsichtlichen Handelns bei der Strafbemessung. Weitere Einschränkungen ergeben sich aus den gesetzlich fixierten Bußtaxen, etwa im Fall von Körperverletzungen oder Diebstahl. Die Bußtaxen bilden den Ausgangspunkt für die spätere Entwicklung des Privatstrafrechts, aus dem das moderne Recht der Unerlaubten Handlungen hervorgegangen ist. Im 3. Jahrhundert v. Chr. werden die Schadensersatzbestimmungen der Zwölf Tafeln durch eine zusammenfassende Regelung in der lex Aquilia (vermutlich 286 v. Chr.) ersetzt. Betrachtet man die einzelnen Haftungsvoraussetzungen der lex Aquilia, so lässt sich der moderne Begriff der Unerlaubten Handlung in Umrissen erkennen. Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden sind als Merkmale der Haftung auf Schadensersatz bereits ausgeprägt. Es ist daher kein Zufall, dass der Name des Gesetzes in Italien und Frankreich in den Ausdrücken responsabilitá Aquiliana und responsabilité Aquilienné noch fortlebt.
Der in der Folgezeit weiter ausgebaute Schutz des Täters vor unberechtigter Verfolgung hat zu einer Funktionsteilung von Privat- und Strafrecht geführt. Heute steht die Fachliteratur der Frage, ob das Zivilrecht unter bestimmten Umständen auch strafrechtliche Funktionen ausüben könne, überwiegend ablehnend gegenüber. Dabei glaubt man, sich auf folgende Argumente berufen zu können: Pönale Elemente seien [<<46] im Zivilrecht ein Fremdkörper, jede Form der Bestrafung müsse hier als unzulässiger, systemwidriger Übergriff in die Kompetenz des Strafrechts missbilligt werden. Schadensersatz könne keine Straffunktionen ausüben, weil das private Haftungsrecht lediglich den Ausgleich der gestörten Vermögensverhältnisse bezwecke. Die öffentliche Strafe sei dagegen keineswegs auf die Vermögenseinbuße des Verletzten begrenzt, sie könne wertmäßig erheblich darüber liegen. Dass das Schadensopfer über seine Vermögenseinbuße hinaus bereichert werde, sei mit den Zwecken des Schadensersatzrechts unvereinbar. Außerdem müsse Strafe anders als Geldersatz nicht an den Verletzten, sondern an die öffentlichen Kassen geleistet werden. Würde ein Schädiger zum Beispiel Strafgeld an sein Opfer ausbezahlen, so käme dies einer Privatstrafe gleich. Das Institut der Privatstrafe gehöre aber zu den „Sauriern der Rechtsgeschichte“ und sei schon längst „ausgestorben“ (Heck). So haben auch die Verfasser des BGB gedacht (Mot. II, 17 f.). Demgegenüber treffen ältere Gesetze wie die Zwölf Tafeln oder die lex Aquilia keine klare Unterscheidung zwischen Schadensersatz und Strafe. Im Hintergrund steht der Gedanke, dass auch die Verpflichtung zum Schadensersatz eine Sanktion normwidrigen Verhaltens und damit Strafe ist. Neueste Entwicklungen, etwa im Bereich der Bemessung von Schmerzensgeldern oder sogenannter punitive damages scheinen den wahren Kern dieses Gedankens zu bestätigen. Die Problembereiche zeigen, dass sich die Grenzlinie zwischen Schadensersatz und Strafe keineswegs so eindeutig ziehen lässt, wie man es gemeinhin für möglich hält. Diese Einsicht hat inzwischen dazu geführt, dass die Privatstrafe und Fragen nach den pönalen Elementen des Zivilrechts wieder stärker in den Bereich wissenschaftlichen Interesses gerückt sind.
3. Die Entstehung des Rechts aus der Gewalt
Viele der in den Zwölf Tafeln enthaltenen Regelungen weisen zurück in eine Zeit, in der die Gewalt das grundlegende Mittel zur Durchsetzung von ‚Recht‘ gewesen ist. Ein anschauliches Beispiel bildet die eigentümliche Zeremonie der mancipatio, die vermuten lässt, dass der Erwerber ursprünglich den Gegenstand nicht nur der juristischen Form halber, [<<47] sondern zur Ausübung der tatsächlichen Sachherrschaft mit der Hand ergriffen hat (S. 34). Ähnlich weist das Ritual der vindicatio zurück in eine Zeit, wo ein Erwerb aus eigener Kraft stattfand und die Gewalttat den eigentlichen Geltungsgrund für einen Besitzwechsel darstellte. So sah es bereits Gaius (IV, 16):
Den Stab aber gebrauchte man gleichsam anstatt des Speeres als ein symbolisches Zeichen des zivilrechtlich anerkannten Eigentums, weil man vor allem das als sein Eigentum glaubte, was man den Feinden abgenommen hatte (festuca autem utebantur quasi hastae loco, signo quodam iusti dominii, quando iusto dominio ea maxime sua esse credebant, quae ex hostibus cepissent).
Etwa 200 Jahre vor Gaius spricht der römische Dichter Vergil (70 – 19 v. Chr.) im 7. Buch der Aeneis von den Ureinwohnern Italiens, den Latinern: Sie „sind des Saturnus Volk, das weder Zwang noch Gesetze braucht, sondern freiwillig dem Fug des ältesten Gottes gehorcht“, was unter anderem bedeutet: Sie „wissen und wünschen nichts Besseres als Raub vom Feind und Leben vom Raub“. Im 19. Jahrhundert hat vor allem Rudolf v. Jhering (15. Kapitel 2, S. 333.) auf die ordnungs- und rechtsstiftende Funktion der Gewalt aufmerksam gemacht. Seine Lehre ist durch neuere Forschungen zur Streitregelung in archaischen Gesellschaften weitgehend bestätigt worden. Danach bildet die Selbsthilfe (S. 128) das ursprüngliche Mittel zur Streitregelung. Selbsthilfeordnungen kommen ohne institutionalisierte Intervention Dritter aus: Die Konfliktlösungen beschränken sich auf gewaltsame Selbsthilfe und direkte Verhandlung zwischen den Kontrahenten. Die Selbsthilfeakte stehen immer unter