Handbuch des Strafrechts. Группа авторов
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Die Bewertung dieses Disputs ist dadurch erschwert, dass umfassende rechtstatsächliche Erkenntnisse fehlen, da empirische Daten zur Unternehmenskriminalität mit Anspruch auf Vollständigkeit von den Bundesländern statistisch nicht erhoben werden. Aus den „Bundeslagebildern zur Wirtschaftskriminalität“ geht jedenfalls hervor, dass die Fallzahlen in den letzten Jahren kontinuierlich, wenn auch unter Schwankungen, zurückgegangen sind, und zwar von 63 194 Fällen im Jahr 2014 auf nur noch 50 550 Fälle im Jahr 2018, wobei der Anteil der Wirtschaftskriminalität an allen polizeilich registrierten Straftaten 0,9 % betrug.[351] Ebenso ist der registrierte Gesamtschaden deutlich zurückgegangen (2014: 4645 Mio. Euro; 2018: 3356 Mio. Euro).[352] Im Jahr 2010 waren demgegenüber noch 102 813 Fälle mit einem Gesamtschaden von 4655 Mio. Euro registriert worden. Selbst wenn das Bundeslagebild das tatsächliche Ausmaß der Wirtschaftskriminalität insb. in Anbetracht des traditionell hohen Dunkelfeldes nur sehr eingeschränkt erfassen kann, spricht viel dafür, dass die Wirtschaftskriminalität in den letzten Jahren insgesamt zurückgegangen ist. Ein Präventionsdefizit, jedenfalls ein „flächendeckendes“, ist daher aktuell nicht erkennbar (zu partiellen Anwendungs- und Vollzugsdefiziten Rn. 109). Weiter ist darauf hinzuweisen, dass in Deutschland bereits ein Unternehmensstrafrecht im weiteren Sinne existiert (Rn. 26). Auch darüber, ob präventive Maßnahmen effektiver sind, wenn sie von den Strafgerichten angeordnet werden, lässt sich streiten, da die Überwachung von Unternehmen eine typische Aufgabe der Verwaltung ist, die schneller, flexibler und effektiver auf Fehlentwicklungen reagieren kann.[353]
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Soweit Defizite bei den Sanktionen und Maßnahmen bestehen, spricht dies nicht zwingend für die Schaffung eines Verbandsstrafrechts, weil das bestehende System entsprechend ausgebaut[354] werden kann. So bevorzugt die bisherige Ausgestaltung der Verbandsgeldbuße Großunternehmen „strukturell“:[355] Zwar sind bereits Geldbußen im drei- und vierstelligen Millionenbereich verhängt worden, diese dienten aber nahezu ausschließlich der Gewinnabschöpfung, der Ahndungsanteil war verschwindend gering (Rn. 33); wenn im Wesentlichen nur die Wiederherstellung des status quo ante droht, ist die Begehung von Straftaten für finanzkräftige Großunternehmen ein geringes, gut kalkulierbares Risiko. Entgegengesteuert werden könnte bei der Verbandsgeldbuße zum einen (im Ahndungsteil) durch eine umsatz- oder ertragsbezogene (Rn. 44 f.) Sanktionierung, und zum anderen (im Abschöpfungsteil) durch das (abgemilderte) Bruttoprinzip (Rn. 38). Ob freilich höhere Geldsanktionen opportun sind, da sie im Ergebnis die Arbeitnehmer und Verbraucher treffen können, ist eine Grundsatzfrage.[356] Auch weitere Maßnahmen, wie der Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge und von Subventionen, sind schon möglich, wie die landesrechtlichen Korruptions- und Vergaberegister und jetzt die Eintragungen in das bundesweite Wettbewerbsregister (Rn. 54) zeigen. Ebenso ist die Einführung einer Kuratel oder der Möglichkeit, Auflagen und Weisungen zu erteilen, denkbar.[357]
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Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sowohl interne als auch externe Präventionsmaßnahmen der Unternehmenskriminalität sehr effektiv entgegenwirken können. So deutet die kriminologische Forschung darauf hin, dass die Unternehmenskriminalität insb. von der ethischen Einstellung in einem Unternehmen, der Organisationskultur und der Normakzeptanz abhängig ist.[358] Der Rückgang der Wirtschaftskriminalität in den letzten Jahren (Rn. 96) dürfte vor allem auf den Ausbau interner Präventionsmechanismen zurückzuführen sein. Diesbezüglich könnten Compliance-Programme gezielt gefördert werden,[359] etwa durch entsprechende Reduktion von Verbandsgeldbußen. Weiter könnten Hinweisgeber stärker geschützt, Hotlines eingerichtet, die Kontrollen durch Wirtschaftsprüfer verstärkt, Selbstgesetzgebungsprozesse und Binnenverfassungen gefördert werden.[360] Und nicht zuletzt könnten die Anreize zur Begehung von Straftaten etwa durch die Abschaffung von Subventionen oder die Stärkung des Selbstschutzes der Verbraucher weiter reduziert werden.[361]
b) Verfolgung und Verfolgungspraxis
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Für ein Verbandsstrafrecht wird weiter angeführt, dass dort das Legalitätsprinzip Anwendung findet. So hatte im Jahr 2013 der damalige nordrhein-westfälische Justizminister Kutschaty[362] das Legalitätsprinzip als „Garant für die Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer“ bezeichnet: Eine Praxisbefragung für den Zeitraum 2006–2011 habe gezeigt, dass das Opportunitätsermessen sehr unterschiedlich ausgeübt werde, und in einer Erhebung bei 80 Staatsanwaltschaften hätten 45 % der Befragten geäußert, § 30 OWiG würde bei Geltung des Legalitätsprinzips „wesentlich öfter“ Anwendung finden. Auch die OECD habe die uneinheitliche Ermessensausübung beanstandet und empfohlen, zumindest Leitlinien über den Gebrauch des Verfolgungsermessens herauszugeben.[363] Während einige Staatsanwaltschaften „astronomisch hohe“ Bußgelder verhängen würden, friste § 30 OWiG anderorts ein „Schattendasein“, da wegen Ressourcenproblemen allein Individualstraftaten verfolgt werden.[364] Ferner habe eine neuere empirische Erhebung zu § 130 OWiG[365] gezeigt, dass diese Bußgeldvorschrift kaum Anwendung findet.[366] Durch das Opportunitätsprinzip, das auch wegen der meist fehlenden Publizität einen Verhandlungsspielraum eröffne,[367] schwinde nicht nur der Opferschutz, sondern für die Unternehmen seien divergierende Entscheidungen bei ähnlichen Sachverhalten ebenfalls eine „unerfreuliche Konsequenz“.[368]
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Die Gegner eines Verbandsstrafrechts halten dem entgegen, dass das bestehende System funktioniert.[369] So lobt Schünemann[370] die „herausragende Intensität“, mit der die Staatsanwaltschaften die Wirtschaftskriminalität bekämpfen und führt an, dass ihnen bereits heute mit §§ 30, 130 OWiG eine „starke Waffe in die Hand gegeben“ sei, von der „steigender Gebrauch“ gemacht werde. Die BRAK[371] bezeichnete im Jahr 2013 die Vorstellung einer „Gleichbehandlung“ durch Einführung eines Verbandsstrafrechts als „lebensfremd“, da dann die Möglichkeiten der Verständigung noch stärker genutzt und größere und finanzkräftige Unternehmen gegenüber kleineren bevorzugt würden; zudem würde der Prozess der „Ökonomisierung“ und Privatisierung“ von Strafverfahren verstärkt. Von anderen werden vermehrt „Bauernopfer“ bzw. Verständigungen zu Lasten von Mitarbeitern befürchtet.[372] Behauptungen, die Wirtschaftskriminalität werde nicht gleichmäßig verfolgt oder Verfahren fänden unbemerkt von der Öffentlichkeit statt, seien nicht nachvollziehbar: Die verpflichtend vorgesehene Weitergabe von Erkenntnissen aus der steuerlichen Betriebsprüfung über Unregelmäßigkeiten an die Ermittlungsbehörden