Einsichtsfähigkeit und ein Andershandelnkönnen voraussetzt. Ein Verband kann aber weder „originär“ einsichtsfähig sein noch „originär“ anders handeln, sondern dies können nur Menschen, die den Verband aufbauen und strukturieren.[223] Nur seinen Leitungspersonen kann ein „originäres“ Organisationsverschulden vorgeworfen werden. Hinweise auf die „soziale Wirklichkeit“ oder die Systemtheorie – und damit das Bemühen, ontologisch eine Parallele zwischen Menschen und Verbänden zu ziehen – können an diesem Befund nichts ändern. Ohnehin ist fraglich, ob etwa die Bezugnahme auf die Systemtheorie den Ansatz tragen kann.[224] Es ist bezeichnend, dass gerade Jakobs[225] sich gegen ein Verbandsverschulden ausgesprochen hat. Zwar möge es sein, dass eine juristische Person ein „Eigenleben“ führt, „sich ihre innere Verfassung nach Regeln bildet, die als bloße Summierung der für sie handelnden natürlichen Personen nicht zu erklären ist“. Dies ändere aber nichts daran, dass es sich um einen „Geist“ handelt. Diesen Geist will freilich Lampe[226] als „überindividuellen Geist“, der sich der Mitarbeiter „bemächtigt“, gerade bestrafen. Ebenso wenig ist die juristische Person ein „Lebewesen höherer Ordnung“[227], sondern nur ein juristisches Konstrukt. Auch die Anknüpfung an eine „Betriebsführungsschuld“ ist verfehlt, da im Individualstrafrecht nicht die „Lebensführungsschuld“ maßgeblich ist,[228] sondern die Einzeltatschuld, so dass es an einer „funktions-analogen“ Übertragung fehlt. Und schließlich ist es nicht überzeugend, von „sozialer“ Schuld zu sprechen und damit den Schuldbegriff zu „entleeren“. Wie das BVerfG im Lissabon-Urteil angeführt hat, enthält jede Strafnorm ein „sozialethisches Unwerturteil“.[229]
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Weiter ist es mit dem Schuldgrundsatz unvereinbar, wenn ein Organisationsverschuldenunwiderlegbar fingiert wird.[230] So fehlt es ersichtlich an einem Organisationsverschulden, wenn etwa eine Leitungsperson, die sorgfältig ausgewählt wurde und jahrelang zuverlässig war, eine zuvor nicht absehbare verbandsbezogene Straftat begeht. In Wahrheit wird in einem solchen Fall nicht an ein „Verschulden“ des Verbands angeknüpft, sondern eine „Garantiehaftung“ begründet.[231] Dies mag zwar im Zivilrecht zulässig sein, ist im Strafrecht aber unannehmbar. Der unwiderlegbare Schluss von der Begehung einer Straftat auf ein Auswahlverschulden ist „schlicht unzulässig“, dem Verband muss nicht nur der Einwand rechtskonformer Organisation gestattet sein, sondern wegen der Unschuldsvermutung ist der Nachweis des Organisationsverschuldens zu fordern.[232]
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Schließlich lässt sich aus der Verankerung des Schuldgrundsatzes in der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) ableiten, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist, ein von dem Verschulden von Menschen vollständig gelöstes Verbandsstrafrecht zu begründen. Ein Verbandsstrafrecht kann daher nicht unmittelbar an ein nicht existentes „originäres“ Organisationsverschulden des Verbands anknüpfen.
cc) Zurechnung des Verschuldens
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Verbreitet[233] wird dem Verband nicht nur das Handeln (Rn. 59), sondern auch das („originäre“) Verschulden seiner Leitungspersonen als „eigenes“zugerechnet und am herkömmlichen Schuldbegriff festgehalten. Der Verband kann damit für jede verbandsbezogene Straftat, die eine Leitungsperson verwirklicht hat, verantwortlich gemacht werden. Zudem kann dem Verband ein Überwachungsverschulden einer Leitungsperson vorgeworfen werden, wenn eine ihr unterstellte Person eine betriebsbezogene Straftat begangen hat. Für Rogall[234] handelt es sich nicht um eine „Zurechnung von Fremdverantwortung“, sondern um eine „Eigendelinquenz des Verbands“, eine Form der „Selbstbegehung“, eine „organschaftliche Verbandstäterschaft“; dem Verband werde das schuldhafte Verhalten wegen der besonderen Stellung seiner Repräsentanten als „eigenes“ zugerechnet; in den Handlungen gelange nicht nur eine fehlerhafte individuelle, sondern vor allem auch „fehlerhafte kollektive Sinnsetzung“ zum Ausdruck. Weitergehend will Engelhart[235] einem Unternehmen die schuldhaften Handlungen aller Personen zurechnen, die ihm angehören, soweit diese durch Compliance-Programme verhindert oder wesentlich erschwert worden wären, also diesbezüglich ein Organisationsverschulden vorliegt.
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Scharfe Kritik an dieser Zurechnungslösung hat vor allem Schünemann[236] geübt, ihr „Schlichtheit“ und „geringsten argumentativen Aufwand“ attestiert; sie bestehe in nichts anderem als einer „quaternio terminorum“ des Handlungs- wie des Schuldbegriffs: Zurechnung einer fremden Handlung sei keine Handlung, Zurechnung fremder Schuld könne eine fehlende Schuldvoraussetzung nicht ersetzen, sei eine „Überstülpung zivilrechtlicher Zurechnungsmodelle auf das Strafrecht“, ein primitives Abreagieren der „Frustration nach unerfreulichen Ereignissen durch wildes Um-sich-Schlagen“.[237] Frisch[238] wendet ein, die Zurechnungslösung missachte wichtige Prinzipien und Grenzen der strafrechtlichen Zurechnung, verkenne deren „Tiefenstruktur“; zugerechnet werden müssten die subjektiven Grundlagen (Vorsatz; Absichten) und damit etwas, was niemals Gegenstand, sondern selbst Grundlage der Zurechnung sei; außerdem gehe es allenfalls um „Teilnahmeunrecht“, da der juristischen Person nur vorgeworfen werden könne, durch ihre Existenz, durch bestimmte Strukturen und durch fehlende Vorkehrungen die Begehung der Straftat einer natürlichen Person ermöglicht oder erleichtert zu haben; dem Teilnehmer könne aber das Unrecht der Tat nicht als eigene Straftat zugerechnet werden; es handele sich um eine „Begriffsvertauschung“, „Begriffsvermengung“, möglicherweise partiell einen „Begründungstrick“.
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Diese Kritik verkennt, dass es nicht darum geht, ob bereits de lege lata eine strafrechtliche Zurechnung erfolgen kann, sondern ob diese de lege ferenda normier- und legitimierbar ist. Im geltenden Kriminalstrafrecht ist die Zurechnung der Schuld von Menschen an Verbände „als eigene“ bislang ausgeschlossen, da eine entsprechende Strafvorschrift nicht existiert. Dies heißt aber nicht, dass der Gesetzgeber sie nicht normieren könnte. Denn wenn er juristischen Konstrukten die Rechtsfähigkeit verleihen kann, kann er ihnen auch die schuldhaften Handlungen von Menschen „als eigene“ zurechnen.[239] Wie Vogel[240] es provokativ formuliert hat, darf der Gesetzgeber „in den Grenzen der Grund- und Menschenrechte und des Willkürverbots“ ein Unternehmensstrafrecht einführen, kann „selbstherrlich“ bestimmen, wer Zurechnungsendpunkt eines strafrechtlich relevanten Verhaltens ist, „ohne an eine bestimmte Dogmatik gebunden zu sein“. Mit anderen Worten: Er kann eine neue Dogmatik erschaffen bzw. die bisherige erweitern, solange dies nicht gegen die Verfassung verstößt. Schünemann[241] hat diese Sichtweise als „erzpositivistisch“ bzw. „neopositivistisch“ angeprangert, gegen ein Tätigwerden des Gesetzgebers wäre aber grds. nichts einzuwenden, da die Normierung einer Verbandsstrafe weder ethisch bzw. moralisch fragwürdig noch ungerecht wäre – im Gegenteil:
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Erstens kann der Vorwurf des Andershandelnkönnens auch gegenüber Verbänden erhoben werden, da sie „originär“ durch ihre Leitungspersonen und damit einsichtsfähigeMenschen handeln, die in der Lage sind, sich am Recht zu orientieren.[242] In der Rechtspraxis wird der Verband gerade mit diesen Menschen, auf deren Handeln er angewiesen ist, identifiziert. Genauso wie ihr Handeln nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Bedeutung hat, hat auch die Schuld individuelle und kollektive Bedeutung. Das schuldhafte Verhalten der Leitungsperson verletzt nicht nur eigene Pflichten, sondern auch Pflichten des Verbands. Leitungs- und Verbandsverschulden können „in eins gesetzt“[243] werden. Zu weit dürfte es gehen, wenn Engelhart einem Unternehmen die schuldhaften Handlungen