Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Zeitgleich zu den Bemühungen, das Reich zu reformieren, beginnt die Reformation der Kirche. Erste Impulse reichen bis ins 14. Jahrhundert zurück (John Wiclif, 1325–1384; Jan Hus, 1369–1415). Am Beginn des 16. Jahrhunderts nimmt der in Wittenberg tätige Augustinermönch Martin Luther (1483–1546) den humanistischen Ruf „ad fontes“ (zu den Quellen) auf und entdeckt im Bibelstudium das paulinische Evangelium neu, nach dem der Mensch nicht durch gute Werke vor Gott gerechtfertigt werden kann, sondern allein durch Gottes Gnade und den Glauben. In seinen 1517 veröffentlichten 95 Thesen kritisiert Luther den zu seiner Zeit verbreiteten Ablasshandel, den Verkauf von Sündenvergebung durch die Kirche, der allerdings eine finanzielle Säule der letzteren bildet.[68] Die Auseinandersetzungen führen 1521 zu Exkommunikation und Reichsacht, aber unter dem Schutz des Sächsischen Kurfürsten Friedrichs III., des Weisen (1463–1525), kann Luther sein Reformwerk fortsetzen, insbesondere die Bibel ins Deutsche übersetzen. Die überaus rasche mediale Verbreitung der reformatorischen Ideen ist möglich durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern in der Mitte 15. Jahrhunderts. Nachdem sich mehrere Reichsfürsten und Freie Reichsstädte dem Reformprogramm anschließen (Confessio Augustana, d.i. das auf dem Augsburger Reichstag von 1530 erklärte Protestantische Bekenntnis), kommt es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen katholischen und protestantischen Reichsständen, die 1555 im Augsburger Religionsfrieden beigelegt werden. Dieses nach der Goldenen Bulle (1356) und dem Ewigen Landfrieden (1495) dritte grundlegende Reichsgesetz billigt nach der (später geprägten) Formel cuius regio, eius religio (wessen Land, dessen Religion) dem Territorialherrscher die Wahl des Bekenntnisses zu (ius reformandi), den dissentierenden Untertanen das Recht zu emigrieren (ius emigrandi). Der Augsburger Religionsfrieden manifestiert demnach eine weitere Stärkung territorialfürstlicher Macht zulasten der kaiserlichen Zentralgewalt.[69]
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Der Augsburger Religionsfrieden leitet für das Reich eine bis 1618 dauernde Friedenszeit ein, aber die nur kompromisshaft beigelegten konfessionellen Konflikte schwelen weiter, verstärkt durch die von der katholischen Kirche eingeleitete theologische Profilierung in der Gegenreformation, die etwa in der Gründung des Jesuitenordens 1534 Ausdruck findet. Radikaler in der Ablehnung katholischer Traditionen als das Luthertum ist die sogenannte reformierte Lehre, die sich in der Schweiz durch das Wirken von Ulrich Zwingli (1484–1531) und Johannes Calvin (1509–1564) entwickelt und sich auch in einigen Reichsterritorien, vor allem aber in der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden und den angelsächsischen Ländern ausbreitet. In Frankreich führt die blutige Verfolgung der dort Hugenotten genannten Reformierten (Höhepunkt ist die pogromartige Bartholomäusnacht 1572) zu Flüchtlingsströmen auch ins Reich; erst das (Toleranz-)Edikt von Nantes 1598 bringt zeitweilige Beruhigung. In England ereignen sich konfessionsbedingte blutige Auseinandersetzungen bis zur Etablierung der anglikanischen Kirche durch Königin Elisabeth I. (reg. 1558–1603); die in der Mehrzahl reformierten Niederländer kämpfen gegen die – katholischen – spanischen Besatzer.[70] Mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) brechen die Konflikte gewaltsam im Reichsgebiet auf. Am Ende dieses für die Bevölkerung überaus verlustreichen und das kulturelle Leben verwüstenden Krieges steht – im Westfälischen Frieden von 1648 – die gleichberechtigte Anerkennung des Katholizismus, des Luthertums und des Calvinismus, politisch können ein weiteres Mal die Territorien ihre Macht zulasten des Kaisers stärken.[71]
III. Die Constitutio Criminalis Carolina
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Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert wird das von der italienischen Legistik und im Kirchenrecht entwickelte gemeine – systematische – Strafrecht in Deutschland rezipiert und geht in die Strafpraxis ein, wie es die verbreiteten Handbücher belegen, etwa der schwäbische Klagspiegel (Mitte des 15. Jahrhunderts) und der 1509 erscheinende pfälzisch-bayerische Laienspiegel.[72] Einflussreich als Gesetz wird die Bambergische Halsgerichtsordnung (Constitutio Criminalis Bambergensis, CCB) von 1507; entsprechend dem gemeinrechtlichen Strafrechtsverständnis ist sie eine Verfahrensordnung mit eingestreuten materiellrechtlichen Bestimmungen, die definitorisch-abstrahierende Ansätze aufweisen. Dabei wird neben dem tradierten Akkussationsprozess der Inquisitionsprozess, also die Befragung von Amts wegen normiert. Die CCB schreibt auch die Verteidigung des Angeklagten vor und beschränkt die zuvor ungeregelte Folteranwendung durch indizielle Voraussetzungen und das Verhältnismäßigkeitserfordernis. Insbesondere diese letztgenannten Regeln sind als Reaktion auf Klagen über Missstände in der Strafjustiz zu begreifen, die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts laut geworden sind und wonach das territorial ausgeübte Strafrecht zunehmend ungebremst als Mittel zur Verfolgung sozialer Randgruppen, insbesondere nichtsesshafter Fremder eingesetzt wird, wobei Beweisschwierigkeiten durch Leumundsverfahren und exzessive Folteranwendung zwecks Geständniserzwingung umgangen werden; die Strafpraxis ist territorial überaus uneinheitlich und von richterlicher Willkür und der Verurteilung Schuldloser geprägt. Schon 1498 hatte daraufhin der (Freiburger) Reichstag beschlossen, es sei eine allgemeine Reichsordnung zu erlassen, „wie man in criminalibus procedieren solle“; von 1521 an bildet die CCB hierfür die förmliche Vorlage, und die 1532 unter der Federführung des Beamten Johann von Schwarzenberg (1465–1528) erlassene Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (reg. 1519–1556), lateinisch Constitutio Criminalis Carolina (CCC), folgt in allem Wesentlichen dem Vorbild der CCB. Zwar räumt sie mit ihrer sog. salvatorischen (d.h. erhaltenden) Klausel am Ende des Vorwortes dem jeweiligen Territorialrecht den Vorrang ein, ist aber gleichwohl der straftheoretisch und -praktisch wirksamste Text im Reich bis ins 18. Jahrhundert hinein.[73]
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Als Prozessordnung ist die CCC gegliedert nach dem Verfahrensgang. Die Bestimmungen zu den staatlicherseits agierenden Personen (Art. 1–5, vgl. auch Art. 81) gehen in Abkehr von der früheren Differenzierung zwischen verfahrensleitenden Richtern und Urteilern von einem einheitlichen Kollegialgericht aus. Die Regelungen zum Inquisitionsprozess, also zur Einleitung des Verfahrens von Amts wegen (Art. 6–10), verweisen – rechtstechnisch als Ausnahme – auf diejenigen zum Akkusationsprozess (Art. 11–17), dürften aber aufgrund der intendierten höheren Praktikabilität die Praxis dominieren. Sodann konzentriert sich der Text auf die Bestimmung der „redlichen anzeygung“, d.h. des begründeten Verdachts, der hinreichend massiv ist, die Folter zu rechtfertigen; hierzu werden zunächst allgemeine Regelungen (Art. 29–32) formuliert, die deutlich gegen die missbräuchliche Folterausübung zielen, indem sie die jeweiligen indiziellen Anforderungen detailliert regeln, nicht hingegen die concreta der Folteranwendung; die peinliche Bestrafung allein aufgrund der anzeygung wird explizit untersagt (Art. 22). Es folgen Regelungen zur anzeygung bestimmter Delikte (Art. 33–47), nämlich zu Mord, Totschlag, Kindstötung, zum Umgang mit Gift, zu Raub und Diebstahl und zur Beteiligung an diesen, zu Brandstiftung und Zauberei. Im nachfolgenden Abschnitt der CCC ist geregelt, wie nach dem Geständnis des Befragten – als der Königin der Beweise (regina probationum), auf das das gesamte Verfahren zielt – jeweils bezogen auf die verschiedenen Taten weiter zu verfahren ist, wobei zunächst das weitere Erforschen der Tatumstände, der Umgang mit Zeugen, die Reaktion auf späteres Leugnen u.a. geregelt sind (Art. 48–103), im Anschluss daran die Strafen für die jeweiligen Delikte festgesetzt sind (Art. 104–129). Wenn Art. 104 CCC allgemein zum Schuld- und Strafverständnis erklärt, „die straff nach gelegenheyt und ergernuß der übelthatt, auß lieb der gerechtigkeit, und umb gemeynes nutz willen zu ordnen und zu machen“, so kommt die charakteristische Verbindung repressiver und präventiver Strafanliegen zum Ausdruck. Zwei Deliktsfeldern widmet die CCC sodann besondere Abschnitte, den Tötungsdelikten (Art. 130–156), hinsichtlich derer eine differenzierte Regelung der Notwehr erfolgt (Art. 139–146), und dem Diebstahl (Art. 157–192), in dessen Kontext die Beihilfe als Beteiligungsform (Art. 177) und der Versuch als Verhinderung