Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Den Beginn der spätrömischen Kaiserzeit markiert die von Kaiser Konstantin I., dem Großen (reg. 306–337 n.Chr.), realisierte Verlegung der Residenz nach Byzanz („Konstantinopel“) im Jahr 330 n.Chr. Nachdem das Reich 395 n.Chr. in ein west- und ein oströmisches geteilt worden ist, bricht Westrom 476 n.Chr. unter dem Ansturm der Goten zusammen; das Byzantinische Reich besteht, bis es 1453 n.Chr. von den Türken zerstört wird.[24] Rechtsgeschichtlich bedeutungsvoll ist die Regierungszeit des oströmischen Kaisers Justinian I. (reg. 527–565 n.Chr.), der, unterstützt von dem Juristen Tribonian (gest. 541 n.Chr.), eine umfassende Sammlung des geltenden römischen Rechts anfertigen lässt. Deren erster Teil (die Institutionen) basiert auf dem erwähnten gleichnamigen Lehrbuch des Gaius; deren zweiter Teil (die Digesten oder Pandekten) stellt, in systematischer Orientierung an den Institutionen, Auszüge aus den Lehrwerken klassischer Juristen zusammen (dabei fast ein Drittel von Ulpianus); der dritte Teil (der Codex) enthält alle noch gültigen kaiserlichen Gesetze. Das Gesamtwerk, das seit dem 16. Jahrhundert n.Chr. als Corpus Iuris Civilis bezeichnet wird, wird in Europa in mehreren Schüben rezipiert und prägt bis heute das Privatrecht in den europäischen Staaten.[25]
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 5 Geschichte des europäischen Strafrechts bis zum Reformationszeitalter › C. Die Völkerwanderungszeit und das frühe Mittelalter (300–1000 n.Chr.)
C. Die Völkerwanderungszeit und das frühe Mittelalter (300–1000 n.Chr.)
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Eine dünne Besiedlung Mittel- und Nordeuropas belegen Funde bereits für die Steinzeit (bis 2000 v.Chr.) und Bronzezeit (2000–1000 v.Chr.). Um 500 v.Chr. wohnen im Gebiet des heutigen Frankreich keltische Stämme, germanische Stämme im heutigen Norddeutschland, Südskandinavien und Teilen Osteuropas, Slawen im Osten. Wanderungsbewegungen führen in den folgenden Jahrhunderten zu vereinzelten kriegerischen Begegnungen mit den Römern. Julius Cäsar (100–44 v.Chr.) erobert 60–50 v.Chr. das von Kelten besiedelte Gebiet sowie das heutige Süddeutschland.[26] In den folgenden vierhundert Jahren bleibt die politische Landkarte Europas verhältnismäßig stabil, doch dann ereignen sich epochale Umwälzungen. Im vierten nachchristlichen Jahrhundert dringen die Hunnen aus Zentralasien nach Europa vor, die germanischen Stämme drängen nach Südeuropa (Zeit der großen Völkerwanderung) und destabilisieren das Weströmische Reich; 476 n.Chr. übernimmt der Germane Odoaker (gest. 493 n.Chr.) die Herrschaft in Italien, Westgoten herrschen in Spanien und Südfrankreich, Vandalen an der nordafrikanischen Küste (im heutigen Tunesien). Theoderich der Große (454–526 n.Chr.) erschafft ein ostgotisches Reich, das bei seinem Tod das heutige Italien sowie den Balkan umfasst. Der oströmische Kaiser Justinian I. kann bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts dieses Reich sowie das von den Vandalen besetzte Gebiet zurückerobern (Erneuerung des Römischen Reiches).[27]
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Rechts- und auch strafrechtsgeschichtlich bedeutungsvoll wird nun die Ausbreitung der um die Zeitenwende entstandenen christlichen Religion. Das Christentum war durch das Mailänder Toleranzedikt (313 n.Chr.) des Kaisers Konstantin I. zunächst vor Verfolgung geschützt und 380 n.Chr. von Kaiser Theodosius (347–395 n.Chr.) zur römischen Staatsreligion erhoben worden. Die Missionierung der zentral- und nordeuropäischen Völker als Auftrag begreifend, trägt das Christentum auch das antike griechisch-römische Denken dorthin. Das gilt besonders für das in der Völkerwanderungszeit entstandene neue Großreich Mitteleuropas, das Frankenreich. Der Merowingerkönig Chlodwig I. (466–511 n.Chr.), der das Gebiet des heutigen Frankreich und Westdeutschland beherrscht, lässt sich taufen. Die Merowinger verdrängt – als erster Karolingischer König – Pippin (reg. seit 571 n.Chr.) von der Herrschaft; sein Nachfahre Karl der Große (742–814 n.Chr.) regiert seit 768 n.Chr. als Frankenkönig, er unterwirft die Sachsen, Langobarden und Bayern und erneuert das weströmische Kaisertum, indem er sich vom Papst am Weihnachtstag des Jahres 800 n.Chr. zum römischen Kaiser krönen lässt. Damit ist seine Herrschaft durch die Kirche abgesichert, zugleich hat die Kirche ihren weltlichen Machtanspruch demonstriert, ein Dualismus, der das Denken und soziale Leben des Mittelalters durchgehend prägen wird.[28]
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Ein gesichertes und plastisches Bild der Sozial- und Rechtsstruktur der Bevölkerung Mittel- und Nordeuropas vor der Berührung mit der römischen Kultur zu gewinnen, bietet erhebliche Schwierigkeiten. Spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat die historische, insbesondere rechtshistorische Forschung darauf abgezielt, mit romantisch-nationalistischem, später nationalsozialistisch-rassistischem Impetus ein ideal-urwüchsiges Charakterbild der alten Germanen zu zeichnen, über dessen mangelnde Belegbarkeit aus den Quellen man hinwegging. Erst seit wenigen Jahrzehnten ist die Forschung offen für einen neuen ideologiefreien Zugriff auf die Quellen. Bei diesen handelt es sich zum einen um römische Aufzeichnungen, nämlich diejenigen Julius Cäsars (verfasst um 50 v.Chr.) und, noch ertragreicher, die Germania des Tacitus (55–120 n.Chr.). Die dort getroffenen Aussagen müssen aber kritisch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass sie politischen Zwecken dienen (etwa: Gegenüberstellung der unverdorbenen Lebensweise der Barbarenvölker und der „dekadenten“ der Römer); auch muss bedacht werden, dass die Römer nur bis zu einem gewissen Grad die Denk- und Lebensweisen der fremden Stämme begriffen haben mögen. Die zweite Gruppe der Quellen sind die seit dem frühen Mittelalter aufgezeichneten Rechts- und anderen Texte, die also aus einer Zeit römischer (und christlicher) Einflussnahme stammen, so dass auch aus ihnen nur mittelbar auf das vorrömische Leben und Denken geschlossen werden kann.[29]
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Hattenhauer trifft auf dieser Quellenbasis folgende Aussagen. Die römischerseits formulierte Differenzierung zwischen Kelten einerseits und Germanen andererseits lässt sich nicht in dem Sinne erhärten, dass sich zwei verschiedene und dabei jeweils in sich geschlossene (Rechts-)Kulturen einander gegenüberstehen, sondern die Vielzahl der einzelnen Stämme lebt nach mehr oder weniger divergierenden sozialen Maßgaben.[30] Folgende allgemeine Charakteristika dieser archaischen sozialen Grundstruktur lassen sich fixieren:[31] Die Menschen leben in mehr oder weniger großen Familienverbänden („Sippen“) als ursprünglicher sozialer Einheit und sind Bauern. Größere Zusammenschlüsse (Stämme) bringen die Herausbildung einer dünnen Adelsschicht mit sich, an deren Spitze kraft ihrer behaupteten geblütsmäßigen Andersartigkeit und Auserwähltheit Könige stehen. Sozial unterhalb der Bauernschicht leben Sklaven. Die Bauern gewährleisten durch ihren Tribut den Adligen ein privilegiertes Leben; die Adligen sind es, die – nachhaltig seit der Völkerwanderungszeit – mit der römischen und christlichen Kultur in Berührung kommen.[32] Das archaische Denken, nämlich das von der römisch-christlichen Kultur unberührte Denken der Bauern, ist nicht auf Fortschreitung, sondern auf Erhaltung gerichtet; Normen werden über Jahrhunderte unverändert mündlich tradiert. Das Denken ist gegenständlich-anschaulich, bezieht sich auf die Abfolge des bäuerlichen Lebens und auf konkrete Orte (Dorflinde als Beratungsort; Feldsteine als Besitzrechtsmarken); die Fähigkeit zur Abstraktion, zur induktiven Feststellung von Regelhaftigkeiten fehlt. Erst die Berührung mit der römisch-christlichen Kultur bewirkt einen über Jahrhunderte dauernden Wandel vom anschauungsgebundenen zum abstrakten Denken. Nach dem archaischen Denken wird die (Um-)Welt nicht in ihren rationalen Wirkungen erfasst, sondern begriffen als ein Geflecht undurchschaubarer, zauberischer Kräfte, belegt etwa durch die Merseburger Zaubersprüche, einen der ältesten althochdeutschen Texte (9. Jahrhundert n.Chr.); in diese magische Welt sind durch einen umfangreichen Ahnenkult auch die verstorbenen