Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Bereits im 10. Jahrhundert (Kaiserkrönung des zweiten Sachsenkönigs Ottos I. im Jahr 962 in Rom durch den Papst) ist die weströmische Kaiserwürde (die mit der Krönung Karls des Großen erneuert worden war) auf die Könige des Ostfrankenreiches übergegangen, das demnach Nachfolger des Römischen Reiches ist und seit dem 13. Jahrhundert Sacrum Romanum Imperium, Heiliges Römisches Reich, genannt wird, seit dem 15. Jahrhundert mit dem Zusatz deutscher Nation – bis zur Abdankung des letzten Kaisers 1806. Diese höchste – göttliche – Legitimierung festigt Macht und Ansehen des Königs, allerdings um den Preis, dass er sich dem ihn zum Kaiser krönenden Papst unterordnet. Denn jedenfalls nach kirchlicher Deutung ist es der Papst, der die Kaiserwürde von Rom auf das Frankenreich, dann auf das Ostfränkische Reich hat übergehen lassen (genannt lat. translatio imperii = Übertragung der Kaiserherrschaft). Dass die Kirche ein eigenständiger und ebenbürtiger Machtfaktor ist, stützt sie argumentativ auch auf die von Papst Gelasius I. (reg. 492–496) formulierte Zwei-Schwerter-Lehre (die geistliche und die weltliche Macht als zwei von Gott verliehene Schwerter) und die angebliche Schenkung der Herrschaft des weströmischen Reiches seitens des Kaisers Konstantin des Großen (reg. 306–337) an die Kirche, wobei diese sog. Konstantinische Schenkung eine im 8. Jahrhundert gefälschte, aber erst im 15. Jahrhundert als Fälschung erkannte Urkunde ist. Die Geschichte des Mittelalters ist auch die Geschichte der Auseinandersetzung von geistlicher und weltlicher Macht, von sacerdotium und regnum.[46]
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Die Macht der Kirche stützt sich dabei seit der fränkischen Zeit auch auf eine starke wirtschaftliche Basis. Die Kirche ist Eigentümerin von Klöstern, die nicht nur intellektuelle Zentren bilden, sondern auch über ausgedehnten Landbesitz verfügen; der Abt agiert als Grundherr. Im 10. Jahrhundert breitet sich, ausgehend von den Klöstern des Westfrankenreichs, über dieses und das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches eine Reformbewegung aus, die sich gegen Simonie (Ämterkauf), gegen die Einsetzung von Laien in kirchliche Ämter und gegen die Priesterehe und das Konkubinat (die dauernde außereheliche Geschlechtsgemeinschaft) wendet und eintritt für die asketischen Ideale des Mönchstums. Der Abt des Benediktinerklosters im burgundischen Cluny wird einer der einflussreichsten Männer Europas. Allmählich treten politische Forderungen in den Vordergrund, und es wird die Unabhängigkeit der wirtschaftlich gestärkten Klostergüter von den Bischöfen als den für ein bestimmtes Gebiet eingesetzten Kirchenfürsten durchgesetzt, indem die Klöster unter direkten päpstlichen Schutz gestellt werden. Der mächtige salische Kaiser Heinrich III. (reg. 1028–1056) nutzt seine Verbindungen zur Reformbewegung zur Verdrängung des simonistischen Papstes und ernennt dessen Nachfolger selbst. Später treiben die Päpste Leo IX. (reg. 1049–1054) und Gregor VII. (reg. 1073–1085) die Reform selbst weiter im Sinne der Wiederherstellung des alten kanonischen (d.h. kirchlichen) Rechts. Ihre Machtinteressen konfligieren mit denen des Kaisers konkret bei der Frage der Investitur (lat. wörtlich Einkleidung), d.h. der Einsetzung der deutschen Bischöfe, die zugleich weltliche Fürsten sind. Höhepunkt des Investiturstreits ist die Exkommunikation (der Kirchenbann) Kaiser Heinrichs IV. (reg. 1084–1105), aufgehoben nach dessen Unterwerfungsgeste („Gang nach Canossa“) 1077. Nach dem kompromisshaften Wormser Konkordat, geschlossen zwischen Papst und Kaiser, das 1122 den Streit beendet, erfolgt, anders als zuvor, die Einsetzung (nur) in das geistliche Amt durch den Papst.[47]
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Im Hochmittelalter bewirken technische Fortschritte beim Ackerbau und ein wärmeres Klima günstigere Lebensbedingungen; die Bevölkerung des Reiches wächst zwischen 1150 und 1250 um 40 % von 50 auf 70 Millionen. Abgesehen von wenigen römischen Gründungen existierten im mittelalterlichen deutschen Reich keine Städte; seit dem 11. Jahrhundert werden hier Städte gegründet und wachsen und werden neben dem König, den Landesfürsten und der Kirche zur vierten Größe im Gesellschafts- und Verfassungsgefüge sowie – neben den Klöstern – zu kulturellen und intellektuellen Zentren. Als städtische Bildungsstätten entstehen die Universitäten (wichtige erste Gründungen außerhalb des Heiligen Römischen Reiches: Ende des 11. Jahrhunderts Bologna; Beginn des 13. Jahrhunderts Paris, Oxford, Cambridge, Salamanca, Padua; im Reich: Prag 1348; Wien 1365; Heidelberg 1386; Köln 1388; Erfurt 1392). Teils nach kämpferischer Auseinandersetzung erlangt eine Reihe von Städten Selbstständigkeit vom jeweiligen Territorialfürsten und ist demnach nur noch dem Reichsoberhaupt verantwortlich (sogenannte Reichsunmittelbarkeit). Die Städte haben jeweils eigene Rechtsordnungen, weswegen die damalige Rechtslage überaus uneinheitlich ist. Es dominiert der Kaufmannsstand; die im 13. Jahrhundert entstandene Hanse, ein länderübergreifender Städtebund, verfügt insbesondere im 14. Jahrhundert über erhebliche wirtschaftliche und infolgedessen politische Macht. Um 1500 hat Köln über 40 000 Einwohner, fast alle der ca. 4000 Städte des Reiches allerdings nur einige Tausend; 90 % der Bevölkerung leben auf dem Land.[48]
II. Scholastik und Strafrecht der Kirche
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Im zwölften Jahrhundert kommen zu günstigeren materiellen Lebensverhältnissen weitere Umstände hinzu, die einen kultuerellen und intellektuellen Aufschwung bewirken, wobei sich das Rechtsverständnis der Menschen in einem Jahrhunderte währenden Prozess tiefgreifend verändert hin zu einer Verwissenschaftlichung des Rechts. Zunächst sind dies gewandelte philosophische Grundlagen, indem seit Beginn des 12. Jahrhunderts die Schriften Aristoteles‚ neu entdeckt, rezipiert und mit der christlichen Lehre verbunden werden. Das hieraus entstehende Denken, die sogenannte Scholastik (von lat. scholasticus = zur Schule gehörend), beherrscht das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis ins 17. Jahrhundert. Seine bedeutendsten Vertreter sind Mitglieder der konkurrierenden Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner: Albert der Große (1193–1280) übernimmt den aristotelischen Ansatz erfahrungsgegründeter Naturforschung; auch für die Philosophie beansprucht er freies Nachdenken unabhängig von theologischen Axiomen. Alberts Schüler Thomas von Aquin (1225–1274) entfaltet durch sein monumentales wissenschaftliches Werk die stärkste Wirkungsmacht. Seine Metaphysik weist dem Menschen einen ontologischen Eigenwert zu, seiner Vernunft einen autonomen Bereich; Erkenntnis sei nicht göttliche Erleuchtung, sondern ein auf Sinneswahrnehmung beruhender, mittels abstrahierender Geistestätigkeit zu leistender Vorgang, der verallgemeinernde Gattungsbegriffe erzeugt. In der politischen Philosophie begreift Thomas, ebenfalls aristotelisch, den Menschen als soziales, als politisches Wesen; der Staat habe für das Gemeinwohl, insbesondere den auf Gerechtigkeit fußenden Frieden zu sorgen – mittels Erlass von Normen, die nicht gegen das natürliche gottgegebene Gesetz verstoßen dürften, im Übrigen, in der konkreten Ausgestaltung der Verhältnisse, aber frei gesetzt werden könnten. Der schottische Philosoph Johannes Duns Scotus (1265–1308) hebt die Individualität des Menschen und die Eigenständigkeit des Willens im Verhältnis zur Vernunft hervor. William von Ockham (1286–1349) fordert, ausgehend von diesem Menschenbild, politisch – dem frühneuzeitlichen Ansatz vom Gesellschaftsvertrag vorgreifend – eine durch Übereinkunft legitimierte und von kirchlicher Bevormundung freie weltliche Herrschaft.[49]
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Zeitgleich mit dem Aufschwung des philosophischen Denkens im 12. Jahrhundert erhält auch das kirchliche Recht bedeutsame Impulse. Um 1140 unternimmt der oberitalienische Mönch Gratian die concordantia discordantium canonum (= Harmonisierung widersprüchlicher Kirchenrechtssätze) in einem so betitelten, später Decretum Gratiani genannten Buch. Die aus Bibelzitaten, Lehrsätzen der Kirchenväter, Konzilsbeschlüssen und päpstlichen