Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Handbuch des Strafrechts - Robert Esser страница 130
![Handbuch des Strafrechts - Robert Esser Handbuch des Strafrechts - Robert Esser](/cover_pre1171376.jpg)
All dem entspricht das Rechtsverständnis.[34] Sozial ist es orientiert am Familienverband: Es wird personal, nicht territorial gedacht (ein „Staat“ existiert nicht), dabei insofern nicht individuell, als Rechte und Bußpflichten nicht dem einzelnen, sondern der Großfamilie einer anderen Großfamilie gegenüber zukommen. Fremde haben keine Rechte, sie dürfen getötet werden; wer – allerdings ein seltener Fall – aufgrund massiven Rechtsverstoßes aus dem Familienverband ausgeschlossen wird, verliert seine Rechtsstellung.[35] Für die Wahrung und Wiederherstellung des Rechtsfriedens innerhalb eines Familienverbandes und zwischen mehreren Familienverbänden sind zwei Rechtsinstrumente zentral, der Eid und die Gabe, wobei sich äußert, dass auch das Recht vom magischen Weltverständnis umfasst ist: Der den Eid Schwörende bindet sich zur Einhaltung der Zusage durch bedingte Selbstverfluchung. Mittels dieses Zaubers verändert er das Recht; der Eidbruch führt zum Schaden (etwa: plötzlichen Tod). Die Wirksamkeit des Zaubers beruht auf der gegenständlich korrekten Durchführung der Handlungen: Heimliche Abänderungen der Gebärden machen den Eid wirkungslos; der listig-doppeldeutige Eid bindet nicht. Die Gabe (ein Gastmahl, eine Sache, ein lebendes Tier) ist nicht reines Geschenk, sondern bindet oder versöhnt den Empfänger, bis hin zur Bündnispolitik der Herrschenden mittels Verheiratung ihrer Töchter (samt Mitgift). Auch die Gabe wirkt magisch-rechtsverändernd abhängig von der äußerlichen Durchführung der Handlung; innere Tatsachen (unbewusste Annahme eines untergeschobenen Objekts) beeinträchtigen die Wirksamkeit nicht.[36] Ein Rechtsbruch (vor allem: Tötung, Körperverletzung, Diebstahl, Sachbeschädigung, Ehrverletzung) ist ebenso wenig durch die abstrakt-inneren Tatsachen eines Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsvorwurfs wie durch einen etwa ethisch konnotierten Schuldvorwurf nach jüngerem Verständnis charakterisiert, sondern allein durch den äußerlichen Deliktserfolg. Der durch den äußerlich fasstbaren Verstoß gebrochene Rechtsfrieden erfordert eine äußerliche, magisch-rituelle Handlung, die ihn – im allgemeinen Interesse – wieder herstellt, wieder zusammengefügt: Das ist die Funktion der compositio (lat. componere = zusammensetzen), der Buß- oder Sühneleistung. Sie bildet einen Heilungszauber, der sich durch Gaben vollzieht, von Gegenständen (auch Geld wird in dieser Funktion, nicht als Zahlungsmittel eingesetzt) oder Tieren oder auch von Menschen in Form der Versklavung oder des Menschenopfers für die Götter (nicht: der Todesstrafe). Recht ist daher wesentlich ein Kompositionensystem, sind Bußgeldkataloge.[37]
16
Das alte Recht ist nicht gesetzt durch einen formenden Gesetzgeber, sondern mündlich überliefert; die Aufzeichnung der Rechte erfolgt erst unter römisch-christlichem Einfluss. Das alte Recht ist geprägt durch das anschauungsorientierte, nicht abstrakte, nicht systematische Denken der Zeit, wie exemplarisch ein Abschnitt (Titel 2 §§ 1–9, folgende Titel) aus dem am Beginn des 6. Jahrhunderts n.Chr. im Auftrag Chlodwigs I. verschriftlichten Salischen Rechts, der Lex Salica, demonstriert: Sie normiert bezogen auf Viehdiebstähle nacheinander die Bußzahlung für den Diebstahl eines saugenden Ferkels, eines ohne Mutter lebensfähigen Ferkels, eines zweijährigen Schweins, eines Ebers, einer Leit-Sau, eines geopferten, eines nicht geopferten Borgschweins, einer Herde von fünfzehn und einer Herde von fünfundzwanzig Schweinen. Es folgen entsprechende Regelungen bezogen auf Rinder, Schafe, Ziegen, Hunde, Vögel, Bienen, anderswo zu Pferden.[38] Was die prozessuale Durchsetzung betrifft, so wird die ursprüngliche Selbsthilfe sukzessive verdrängt durch ein öffentliches – vom Oberhaupt der Großfamilie geleitetes – Verfahren, zu dessen Erscheinen der Rechtsbrecher gezwungen werden kann. Wesentlich sind auch hier rituelle Äußerlichkeiten, dass nämlich das Verfahren zu einer bestimmten Zeit (etwa einer bestimmten Mondphase) an einem bestimmten (geweihten) Ort unter Vornahme bestimmter Handlungen stattfindet. Auch bei der Sachverhaltsermittlung äußert sich das magisch-irrationale Weltverständnis, indem der Reinigungseid (wiederum: bedingte Selbstverfluchung) rechtsverändernd vom Verdacht eines Rechtsbruchs befreit und die natürlich-magischen Kräfte rechtsetzend wirken, wenn etwa das Wasser nur den Unschuldigen aufnimmt, hingegen den Schuldigen oben schwimmen lässt, oder es dem Unschuldigen möglich ist, unbeschadet ein Stück Eisen mit bloßer Hand aus kochendem Wasser zu nehmen („Kesselfang“).[39]
17
Im 6. bis 9. Jahrhundert werden die archaischen Rechtsbräuche, wie die zahlreichen neben der Lex Salica existierenden Aufzeichnungen der verschiedenen Volksrechte belegen (lat. Leges barbarorum = Gesetze der Barbaren), mit der christlichen Lehre amalgamiert und überdauern auf diese Weise, etwa indem die zuletzt geschilderten Beweisbehelfe als Gottesurteile Anerkennung finden (bis zu ihrer Delegitimierung durch Papst Innozenz III., reg. 1198–1216 n.Chr., auf dem IV. Laterankonzil von 1215 n.Chr.).[40] Beherrscht wird das Rechtsleben weiterhin durch das Kompositionensystem und die kasuistische Normengestaltung. Verbreitung als Element des römisch-christlichen Rechts findet die Körper- und Todesstrafe auch gegen Freie (nicht nur gegen Sklaven) zunächst in Hochverratsfällen, später auch bei anderen schweren Verbrechen. Neben dem aufgezeichneten Volksrecht normieren die Karolinger Recht in den Kapitularien (königlichen Schreiben; von lat. capitulum, einer Verwaltungseinheit), vermittelt durch Königsboten.[41] Der König und seine Boten sitzen über gravierende Fälle selbst zu Gericht; vor allem den Hochverrat verfolgen sie inquisitorisch (das heißt durch Ermittlung von Amts wegen, von lat. inquisitio = Untersuchung, Befragung) und mittels Folter; flächendeckend herrscht aber das Anklageverfahren (als ein privat initiiertes Parteienverfahren); minder schwere Fälle werden vor örtlichen Gerichten verhandelt. Diese öffentliche Strafverfolgung findet ihre Grenzen an der geringen verwaltungsmäßigen Durchformung des Frankenreiches; das gilt in erhöhtem Maß nach der Teilung desselben (in Westfranken, Lothringen und Ostfranken, das sich noch im 9. Jahrhundert auf Lothringen ausdehnt) durch den 843 n.Chr. von den drei Enkeln Karls des Großen geschlossenen Vertrag von Verdun und für die folgende quellenarme Zeit bis ins 11. Jahrhundert n.Chr.[42]
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 5 Geschichte des europäischen Strafrechts bis zum Reformationszeitalter › D. Hoch- und Spätmittelalter (1000–1500)
I. Das deutsche König- und Kaiserreich, die Kirche, die Städte
18
Das Ostfrankenreich ist seit der Krönung des Sachsen Heinrich I. im Jahr 919 ein Königreich, wobei die Königswürde nicht vererbt wird, sondern die Territorialfürsten den König wählen. Bis 1250 ist die Wahl auf das Königshaus beschränkt, wodurch Dynastien regieren: Nach den Sachsen die Salier (1024–1125) und die Staufer (1152–1250). Die Stauferzeit kann als klassische Zeit, als Blütezeit des mittelalterlichen Reiches gesehen werden; impulsgebend wirkt insbesondere die Errichtung eines zentralistisch organisierten Staates auf Sizilien durch Kaiser Friedrich II. (seit 1198 König von Sizilien, seit 1211 von Deutschland, Kaiser seit 1220, gest. 1250).[43] Nach der Absetzung des letzten Staufers folgt ein Interregnum, eine herrscherlose Zeit, danach, ab 1273, setzt sich – was eine politische Schwächung des Königs bedeutet – das dynastieunabhängige passive Wahlrecht durch; sukzessive wird das aktive Wahlrecht auf die sieben Kurfürsten (= Wahlfürsten; küren = wählen) beschränkt, nämlich drei geistliche, die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, und vier weltliche, den König von Böhmen, den Pfalzgrafen bei Rhein, den Herzog von Sachsen und den Markgrafen von Brandenburg. Kaiser Karl IV. (deutscher König 1346–1378, römisch-deutscher Kaiser ab 1355) lässt dies 1356 festschreiben in einer Bulle, das heißt einem feierlich verfassten Erlass (lat. bulla = Siegelkapsel), die wegen ihres goldenen Siegels Goldene Bulle genannt wird und als erstes und wichtigstes Grundgesetz des Königreiches gelten kann.[44] Die politische Macht des Königs beruht – neben seiner territorialen Hausmacht – darauf, dass er auf das mit dem Königsamt verbundene Reichsgut zurückgreifen kann, nämlich auf den Ertrag des betreffenden Grundbesitzes sowie auf nutzbare Hoheitsrechte, sog. Regalien (lat. iura regalia = königliche Rechte) wie Münzrechte, Zölle, Jagdrechte u.a. Gleichwohl ist der König zur Beherrschung