Jugendgerichtsgesetz. Herbert Diemer

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Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer Heidelberger Kommentar

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Täters würde nicht nur zu einem Stillstand der Rechtspflege und einer erzieherisch unerwünschten Verzögerung des Verfahrens, sondern zumindest im Bereich der einfachen und mittleren Kriminalität unter Umständen auch zu einer unnötigen Stigmatisierung des häufig schuldeinsichtigen Täters führen, die zu der abzuurteilenden Tat völlig außer Verhältnis stünde. Die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist in erster Linie eine wertende Entscheidung des Gerichts (Dallinger/Lackner § 3 Rn. 25), dessen Sachkunde in den meisten Fällen zumindest der leichten und mittleren Kriminalität als ausreichend zu betrachten ist. Dies gilt um so mehr, als wegen des Fehlens allgemeingültiger, wissenschaftlich gesicherter Kriterien für die Reifebestimmung (s. Rn. 14) mit der Zuziehung eines psychologischen Sachverständigen immer die Gefahr besteht, dass die Entscheidung lediglich auf die subjektive Beurteilungsebene einer anderen, nach dem JGG hierfür unzuständigen Person verlagert wird. Es bleibt in allen Fällen dabei, dass die entscheidenden Vorstellungen über die Reife des Jugendlichen im konkreten Fall auf einem persönlichen Eindruck beruhen, der oft trügerisch sein kann (Ostendorf § 3 Rn. 12), oft aber auch zutrifft. Der Glaube an die größere Zuverlässigkeit so genannter wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden (Ostendorf § 3 Rn. 13) wird jedenfalls im Bereich der Reifeprüfung nach § 3 durch die herrschende Unsicherheit bei der Bestimmung allgemeingültiger, wissenschaftlich fundierter Kriterien (s. Rn. 14; eingehend Eisenberg § 3 Rn. 10 ff. m.w.N.) erheblich erschüttert. Auch wenn der Gerichtssaal möglicherweise der „ungeeignetste Ort (ist), in das geistig-seelische Leben eines Menschen einzudringen“ (Peters Handbuch, S. 405, zit. bei Eisenberg § 3 Rn. 55), so ist er doch in der Rechtsordnung des Grundgesetzes in diesen Fällen der grundsätzlich vorgeschriebene.

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      Nachdem auch das 1. JGGÄndG den § 3 S. 1 entgegen beachtlichen Argumenten der Literatur zu Gunsten einer Abschaffung des § 3 S. 1 mit alleiniger Geltung der §§ 17, 20, 21 StGB (vgl. Brunner 9. Aufl., § 3 Rn. 2; Bohnert NStZ 1988, 249 ff.; Bresser ZStW 1962 (Bd. 74), S. 579 ff., 594) unverändert beibehalten hat und daher auf einen positiven Nachweis der strafrechtlichen Verantwortlichkeit de lege lata nicht verzichtet werden kann, andererseits aber wissenschaftlich gesicherte Kriterien für die Beurteilung der Reife i.S.v. § 3 S. 1 nicht vorliegen und wohl auch nicht aufgestellt werden können (Bresser ZStW 1962 (Bd. 74), S. 579 ff. eingehend: Rupp-Diakojanni S. 54 ff.; a.A. Lempp Strafmündigkeit, 1973, S. 15 ff. mit Beispielsfällen, die allerdings so außergewöhnlich sind, dass sie die Anwendung der §§ 20, 21 StGB nahelegen), ist in der Praxis auf folgende Prüfungsmaßstäbe abzustellen, die festgestellt und in den Urteilsgründen unter Berücksichtigung aller weiteren nach den Umständen des Einzelfalles in Betracht kommenden subjektiven und objektiven Umstände in der Tat und in der Person des Täters erörtert werden müssen:

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      Das Lebensalter: Reifemängel werden um so näher liegen, je dichter der Jugendliche noch an der Grenze zur Strafunmündigkeit (§ 19 StGB) steht, bei 16–17jährigen dagegen weniger häufig auftreten; die Lebensumstände des Täters, insbesondere Elternhaus, Umgang, Gewohnheiten, der Umstand der Heimerziehung (vgl. Moser Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, 1987). Eine besonders sorgfältige Prüfung ist auch dann angezeigt, wenn eine ausländische Herkunft des Täters auf völlig andere kulturelle Anschauungen schließen lässt und konkrete Tatsachen darauf hinweisen, dass der Jugendliche mit den hiesigen Wertvorstellungen (noch) nicht zurechtkommt; der körperliche Gesundheitszustand des Jugendlichen; die Schulbildung und der allgemeine Bildungsstand des Täters (Bohnert NStZ 1988, 249 ff., 250 m.w.N.) wie z.B. allgemeines Erfahrungswissen, Merkfähigkeit, das Vorhandensein bestimmter Begriffe und Vorstellungen, das Denk- und Kombinationsvermögen, die Fähigkeit der Erfassung von Zusammenhängen. Die Feststellung, inwieweit der Jugendliche die seiner Straftat widersprechenden Werte zu einer sittlichen Reife verinnerlicht hat, kann gegebenenfalls durch die Erörterung einfacher Fragen über Recht und Moral erfolgen (Kohlhaas EJF Bd. 2, CI Nr. 3, Anmerkung).

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      Liegen bei den genannten Kriterien mindestens durchschnittliche Verhältnisse vor, so muss die Reife i.S.v. § 3 bejaht werden. Eine weitere Konkretisierung von Maßstäben ist angesichts der Vielfalt individueller und sozialer Verhältnisse nicht möglich. Die Orientierung am Durchschnitt ist daher legitim und geboten und für eine funktionsfähige Strafrechtspflege unumgänglich.

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      Die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Satz 1 muss zur Zeit der Tat vorgelegen haben, nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung. Da in der Praxis häufig ein erheblicher Zeitraum zwischen Tat und Entscheidung liegt, ist eine etwaige Nachreife zu bedenken (BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 7). Aus diesen Gründen ist auch möglichst frühzeitig mit den erforderlichen Nachforschungen bezüglich der Reife zu beginnen (§ 43). Der Jugendgerichtshilfe kommt dabei eine entscheidende Aufgabe zu (§ 43 Abs. 1 S. 4, § 38 Abs. 3). Zu dem Umfang der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen s. § 43; zu den Aufgaben der Jugendgerichtshilfe s. § 38.

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      Die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist positiv festzustellen. Bleiben nach durchgeführter Hauptverhandlung unlösbare Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Täters zur Zeit der Tat, so ist von ihrem Fehlen auszugehen (BGH ZJJ 2005, 205; allg.M.). Das sich aus § 3 Satz 1 JGG ergebende Erfordernis, die entwicklungsbedingte Handlungsreife in Bezug auf die konkrete Rechtsgutsverletzung positiv feststellen zu müssen, stellt an den Tatrichter zwar besondere Erkenntnis- und Begründungsanforderungen (vgl. Bohnert NStZ 1988, 249; Streng DVJJ-Journal 1997, 379, 380), doch folgt aus ihm nicht, dass eine entsprechende Annahme nur noch dann getroffen werden kann, wenn keine reifebedingten Einschränkungen vorliegen. Auch eine aufgrund von Reifedefiziten eingeschränkte Handlungsreife begründet die Annahme strafrechtlicher Verantwortlichkeit gemäß § 3 Satz 1 JGG, wenn der Jugendliche „reif genug“ ist (BGH 4 StR 271/12 Rn. 9 = NStZ 2013, 286) unter Hinweis auf den Wortlaut von § 3 Satz 1 JGG). Soll das Verfahren wegen Fehlens der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch Freispruch beendet werden, so ist, abgesehen von den allgemein revisionsrechtlichen Grundsätzen (s. dazu KK-Kuckein § 267 Rn. 41 f.) schon mit Rücksicht auf S. 2 dennoch der Sachverhalt im Urteil festzustellen.

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      Der

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