Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов

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      Wiedervereinigung und Europäisierung

      Die 1990er Jahre markieren in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt für die Entwicklung der deutschen Verwaltung, der deutschen Verwaltungspolitik und des deutschen Verwaltungsrechts. Zunächst stellte natürlich die Wiedervereinigung das (bis dahin) westdeutsche Verwaltungsrecht vor eine ungeahnte Bewährungsprobe: Sie lässt sich als umfassender „Stresstest“ des gesamten westdeutschen Verwaltungsrechtssystems durch Übertragung bzw. Erstreckung auf ein völlig neues Umfeld begreifen.[1] Hinzu kam, dass gerade die deutsche Wiedervereinigung auch den Umfang des acquis communautaire für den deutschen Gesetzgeber und die deutsche Verwaltung deutlich gemacht hat: War das allmähliche Anwachsen des gemeinschaftsrechtlichen Besitzstandes in der alten Bundesrepublik nur am Rande wahrgenommen worden,[2] machte „der Beitritt der neuen Bundesländer [der deutschen Rechtswissenschaft] auf einen Schlag klar, welch riesiger Regelungskomplex [gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs] bei der Wiedervereinigung zu beachten und zu integrieren war.“[3] Zudem war erst mit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 das Umweltrecht als sehr „breitenwirksames“ Betätigungsfeld der Gemeinschaft mit Auswirkungen für alle Verwaltungsebenen hinzugekommen, und generell griff die Sekundärrechtssetzung auf immer mehr Bereiche über, die bisher ausschließlich vom nationalen Gesetzgeber geregelt worden waren.[4] Die Europäisierung des Verwaltungsrechts war damit gleichzeitig mit, jedoch weitgehend unabhängig von den durch die Wiedervereinigung begründeten Herausforderungen zu verarbeiten.

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      „Schlanker Staat“, „aktivierender Staat“, „Neues Steuerungsmodell“

      Die enormen Herausforderungen des Neuaufbaus in den neuen Ländern, die zu den Problemen traten, die auch in Westdeutschland vom Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und dessen wirtschaftliche Folgen ausgelöst wurden, warf aber auch ganz grundsätzlich die Frage der Eignung der in der vergleichsweise „beschaulichen“ Bonner Republik entwickelten Grundstrukturen der Verwaltung und des Verwaltungsrechts zur Erfüllung ihrer Aufgaben in Zeiten enormer Sparzwänge und einer sich immer weiter diversifizierenden Gesellschaft auf. Dies führte auch zu einem (von einigen Ländern übernommenen) neuen Politikstil auf Bundesebene (der durchaus auch mit dem Umzug nach Berlin verknüpft ist), der auf eine weitgehende Staatsaufgabenkritik und damit auch eine weitgehende Umgestaltung der Exekutive ausgerichtet war. In der 13. Wahlperiode (1994 bis 1998) wurde dies von der schwarz-gelben Koalition insbesondere mit dem Reformleitbild „schlanker Staat“, in der 14. Wahlperiode (1998 bis 2002) von der rot-grünen Koalition mit dem Reformleitbild des „aktivierenden“ Staates, verbunden.[5] Beide Leitbilder erhoben mit nur leicht unterschiedlichen Akzenten die Reduzierung von Staatsaufgaben (auch mit dem Ziel des Personal- und Behördenabbaus), Deregulierung und Privatisierung staatlicher Leistungen zu zentralen Politikzielen.[6] Darüber hinaus führte das maßgeblich 1991 bis 1993 von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) entwickelte und parteiübergreifend akzeptierte „Neue Steuerungsmodell“ zu erheblichen Änderungen im Verwaltungsorganisations-, Haushalts- und öffentlichen Dienstrecht, die die gewünschten Verwaltungsreformen ermöglichen sollten.[7]

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      Querschnittsthemen und Reformschübe

      Die hierdurch ausgelöste Kette der Veränderungen für Verwaltung und Verwaltungsrecht reißt nicht ab.[8] Im Gegenteil treten seit der Jahrtausendwende die digitale Revolution und die mit ihr verbundenen Hoffnungen der Verwaltungsvereinfachung und -verbesserung durch Digitalisierung[9] als weitere Veränderungsfaktoren hinzu.[10] Hinzu kommen auch immer weitere nationale, europäische und globale Herausforderungen für Politik, Verwaltung und Gesellschaft, für die bisher keine trag- und konsensfähigen Lösungen gefunden wurden. Zu nennen wären (abgesehen von der „Corona-Krise“)[11] ohne Anspruch auf Vollständigkeit und in „freier“ Reihenfolge die zunehmende Bedrohung des Bestands der Europäischen Union, Währungs-, Finanz– und Staatsschuldenkrisen, die weltweiten Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Klimawandel und den Verlust an Biodiversität, der demografische Wandel, zunehmende Migrationswellen wegen unzureichender Bekämpfung der Migrationsursachen, zunehmende Auswirkungen der Versäumnisse bei der Unterhaltung und dem Ausbau von Infrastrukturen und im Wohnungsbau, internationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität und ganz generell die auch in Deutschland immer tiefer werdenden Spaltungen in der Gesellschaft, die Ideologisierung des politischen Diskurses und seine Vergiftung durch eine zunehmende Empörungskultur, Fake News, Verschwörungstheorien, Populismus, Nationalismus und Hass. In den letzten 30 Jahren scheint es daher keine (symbolischen oder wirklichen) zeitlichen „Zäsuren“ mehr zu geben, dafür aber immer mehr Querschnittstrends, die teilweise gegenläufig, teilweise miteinander verflochten sind und sich wechselseitig verstärken. Sie führen zu wellenartigen Reformschüben und zu einer stetigen Veränderung der Staatsaufgaben und der Art und Weise ihrer Erfüllung. Dabei scheint die Gesetzgebung seit den 1990er Jahren weniger an beständigen, nachhaltigen Lösungen orientiert als daran, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass (vielfach in Koalitionsverträgen) definierte Politik- und Reformziele innerhalb der jeweiligen Legislaturperiode erreicht werden oder jedenfalls bestimmte Reformen in Gang gesetzt werden können. Vergleichbare Veränderungen wären vermutlich auch ohne die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union (und ihrer Rechtsvorgänger) eingetreten, sie haben aber durch die sich aus dieser Mitgliedschaft ergebende Verpflichtung zur Verwirklichung des Unionsrechts (Art. 4 Abs. 3 EUV)[12] und die Einbindung der deutschen Verwaltung in den Europäischen Verwaltungsverbund[13] eine besondere Gestalt bekommen.[14]

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      Verwaltungsrechtliches Erbe der „Bonner Republik“

      Es ist jedoch bereits gezeigt worden, dass trotz aller Veränderungen des Regelungsumfelds die Weichen, die das Grundgesetz für die Entwicklung des (west-)deutschen Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft gestellt hat, bis heute ebenso fortwirken bzw. erst in jüngerer Zeit (teilweise) überwunden werden. Dies betrifft insbesondere die Rechtsschutz- und Verwaltungsgerichtszentriertheit der Verwaltungsrechtswissenschaft[15] und ihre Fokussierung auf Subordinationsverhältnisse unter vielfacher Ausblendung privatrechtlichen und „schlichthoheitlichen“ Verwaltungshandelns,[16] die nur begrenzte Integration des Staatshaftungsrechts in das verwaltungsrechtliche Denken,[17] die Teilausblendung des Steuerrechts, des Sozialrechts, des Rechts der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes und der Bereiche des Verwaltungshandelns, die in den Zuständigkeitsbereich der ordentlichen Gerichte fallen,[18] und schließlich die Unitarisierung des Landesrechts durch bundesgerichtliche Rechtsprechung.[19] Auch die prägende Kraft der in der „Bonner Republik“ geschaffenen Gesetzeswerke und Kodifikationen zum allgemeinen Verwaltungsrecht (VwGO und VwVfG) und zu den „klassischen Referenzgebieten“ des besonderen Verwaltungsrechts (Polizei- und Ordnungsrecht, Kommunalrecht, Baurecht, Umweltrecht, Gewerberecht, Beamtenrecht, Straßenrecht) wirkt bis heute fort.[20] Tatsächlich zeigt sich zunehmend, dass auch das „verwaltungsrechtliche“ Erbe der „Bonner Republik“ (1949–1990) bei weitem nicht ausgeforscht ist, sondern viele Fragen noch immer offen sind.[21]

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      Leistungsfähigkeit der Verwaltungsrechtswissenschaft

      Dennoch ist es seit den 1990er Jahren zu einer erheblichen Ausweitung der von der Verwaltungsrechtswissenschaft bearbeitenten Themen gekommen; die Kanalisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die geschilderten grundgesetzlichen Vorgaben aber auch durch die Themen der VwGO und des VwVfG ist immer weniger wirksam: Die Kanäle laufen über. Dies warf die Frage der Leistungsfähigkeit der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft und ihrer Methoden in der Diskussion über die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“[22] und der hierauf aufbauenden Diskussion über die Rolle der Dogmatik (auch) in der Verwaltungsrechtswissenschaft[23] auf. Hinzu tritt eine Diskussion über die Relevanz der Verwaltungsrechtswissenschaft für die Verwaltungspraxis.[24] Diese Grundsatzdiskussionen haben jedenfalls dazu geführt, dass sich viele (jüngere)

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