Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band. Hugo Friedländer

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Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band - Hugo Friedländer

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Nitter?

      Angekl.: Ich bitte, mit meinem Verteidiger sprechen zu dürfen.

      Der Vorsitzende unterbrach die Sitzung und gestattete, daß der Verteidiger sich mit dem Angeklagten in ein Zimmer zurückzog.

      Nach etwa zehn Minuten trat der Verteidiger mit dem Angeklagten in den Sitzungssaal wieder ein. Die Spannung der zahlreichen Zuhörer war aufs höchste gestiegen.

      Vert. R.-A. Dr. Boré: Der Angeklagte hat mich ermächtigt, zu erklären, daß er den Schuß auf den Apothekenbesitzer Rathge abgegeben hat. (Große allgemeine Bewegung.) Der Angeklagte bestreitet aber, einen Mord beabsichtigt zu haben. Der Angeklagte läßt den Herrn Vorsitzenden außerdem ersuchen, die Sitzung auf eine Stunde zu unterbrechen. Der Angeklagte ist derartig erregt Und erschöpft, daß er dringend der Erholung bedarf.

      Es trat darauf eine einstündige Pause ein.

      Nach Wiedereröffnung der Sitzung war der Andrang des Publikums geradezu beängstigend, Aber auch der Innenraum war zum Brechen voll, so daß die Berichterstatter im Schreiben ganz außerordentlich behindert wurden.

      Der Vorsitzende ließ den Angeklagten vor den Richtertisch treten. Der Angeklagte erzählte auf Befragen des Vorsitzenden: Am Freitag, den 23. Oktober, abends, habe ich im »Kronen-Café« in Berlin mit Nitter beschlossen, nach Magdeburg zu fahren, um uns dort ordentlich zu amüsieren und auch Pfandscheine zu verkaufen. Von Magdeburg wollten wir nach Halle fahren. Wir wollten hauptsächlich deshalb nach Magdeburg fahren, weil ich in Berlin schon wegen der Bethge behindert war. Am folgenden Tage, Sonnabend den 24. Oktober, mittags ein Uhr, fuhr Nitter nach Magdeburg, ich traf um acht Uhr abends in Magdeburg ein. Nachdem ich im Nebenhaus von Nitter, in der Anhaltstraße hierselbst, ein Zimmer gemietet hatte, besuchten wir verschiedene Lokale.

      Vors.: Hatten Sie nicht auch die Absicht, einen Einbruch zu verüben?

      Angekl.: Nein, davon war keine Rede. Am folgenden Sonntag machte Nitter beim Mittagessen den Vorschlag, etwas auszuführen. Ich muß bemerken, daß ich kein Gepäck nach Magdeburg mitgebracht hatte. Die Einbruchswerkzeuge hatte Nitter mitgebracht. Nitter sagte: »Ich habe schon ausbaldowert.« Ich muß ausdrücklich hervorheben, daß ich das Wort »ausbaldowert« gar nicht kannte. Ich habe manches gekauft, dadurch kam ich mit Verbrechern zusammen, die Verbrechersprache war mir aber vollständig fremd. Ich hatte, offen gestanden, keine Lust, einen Einbruch zu begehen, wenn nicht wenigstens Aussicht vorhanden war, 50 bis 60000 Mark dabei zu holen, so daß man ein Geschäft anfangen konnte. Nitter drang aber in mich. In der Wilhelmstraße wollten wir in eine Drogenhandlung einbrechen, das gelang uns aber nicht. Wir gingen alsdann den Breiten Weg entlang und kamen bei der Hirsch-Apotheke vorüber. Da hing ein Zettel draußen: »Von drei Uhr nachmittags ab geschlossen.« Nitter schlug vor, in die Apotheke einzubrechen. Ich lehnte ab. Da sagte Nitter: »Willst du es vielleicht noch bequemer haben? Du siehst hier den Zettel, sollen sie dich vielleicht erst zum Kaffee einladen?« Ich wollte aber nicht und sagte: »Was ist denn in einer Apotheke zu holen?« Nitter erwiderte: »Du bist doch sonst ein mutiger Mensch, hier, wo die Sache so günstig liegt, verlierst du den Mut!« Dieser Appell an meinen Mut und die günstige Gelegenheit veranlaßten mich schließlich, in die Apotheke mit hineinzugehen. Wir hatten die Tür schnell auf und kamen zunächst in ein kleines Kontor. Von dort kamen wir in die Apotheke. Wir zogen verschiedene Schubladen auf. In demselben Augenblick hörten wir schließen, und ein großer, starker Mann stand vor uns. Ob er guten Abend sagte, weiß ich nicht. Ich war jedenfalls furchtbar erschrocken. Ich glaubte bestimmt, nun werden wir gefaßt. Ich zog deshalb meine Browningpistole und schoß. Wie ich dazu kam, ist mir unbegreiflich. Ich ergriff die Flucht und fiel sehr bald hin. Mehrere Leute hoben mich auf und sagten, ob mir etwas passiert sei. Ich sagte, ich fühle mich unwohl. Dadurch gelang es mir, zu entkommen. Ich begab mich in meine Wohnung. Ich blieb die folgende Nacht auch in Magdeburg. Da Nitter nicht nach Hause kam, wußte ich, daß er gefaßt worden ist. Geschlafen habe ich vor Aufregung nicht einen Augenblick. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich vielleicht daneben geschossen oder den Mann nur verletzt hätte. Am folgenden Vormittag holte ich die Sachen von Nitter und nahm diese mit nach Berlin. Ich las in den Berliner Zeitungen, daß der Geschossene nur verletzt sei. Ich machte mich aber auf jeden Fall reisefertig. Ich hatte 800 Mark in Magdeburg bei mir. 400 Mark hatte ich bei der Deutschen Bank und eine Summe in meinem Koffer. Im ganzen hatte ich etwas über 3000 Mark. Ich fuhr am 28. Oktober nach Monte Carlo, von dort nach Lissabon, Madrid, Barcelona und schiffte mich nach Brasilien ein. In einem Café in Barcelona las ich in der »Kölnischen Zeitung«, daß der Apotheker gestorben sei.

      Vors.: Lasen Sie nicht auch Ihren Steckbrief?

      Angekl.: Den las ich erst drei Wochen vor meiner Verhaftung in Rio de Janeiro.

      Vors.:

      Sie behaupten also, Sie hatten nicht die Absicht, den Apotheker zu erschießen?

      Angekl.: Keineswegs, es tat mir sofort furchtbar leid, daß ich geschossen hatte. (Der Angeklagte brach hierbei in Tränen aus.)

      Vors.: Sie mußten sich aber doch sagen, wenn Sie auf den Mann schießen, dann ist die große Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß Sie ihn erschießen.

      Angekl.: Überlegung hatte ich überhaupt nicht. Ich wollte auch nach den Beinen schießen, ich war aber so erregt, daß ich überhaupt kein Bewußtsein mehr hatte.

      Vors.: Wenn Sie nach den Beinen geschossen hätten, dann wäre es dem Manne möglich gewesen, um Hilfe zu schreien.

      Angekl.: Daran dachte ich nicht.

      Vors.: Wäre es nicht möglich gewesen, ohne Schuß zu entweichen?

      Angekl.: Herr Rathge war ein großer, starker Mann, der hätte uns doch wohl festgehalten.

      Nitter sagte hierauf auf Befragen des Vorsitzenden: Im großen und ganzen hat Knitelius den Vorgang richtig geschildert. So drastisch berlinisch habe ich mich aber nicht ausgedrückt. Die Herren werden schon gesehen haben, daß das gar nicht meine Art ist. Ob es möglich gewesen wäre, ohne Schuß zu entkommen, weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, daß Knitelius nicht die Absicht hatte, den Apotheker zu erschießen.

      Vors.: Ist vielleicht vorher verabredet worden, sobald Sie überrascht werden, zu schießen?

      Nitter: Ausgeschlossen. Ich will noch bemerken, wenn es sich um einen Einbruchdiebstahl von Millionen gehandelt hätte, würde ich Knitelius nicht verraten haben. Es handelt sich aber um Menschenleben, da mußte ich schließlich ein offenes Geständnis ablegen. Fräulein Bethge erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Knitelius war sehr jähzornig, aber eine schlechte Tat, insbesondere einen Mord, hätte sie ihm niemals zugetraut.

      In derselben Weise äußerten sich noch mehrere Berliner Juwelenhändler, die seit langer Zeit mit dem Angeklagten bekannt waren. Die meisten dieser Leute schilderten den Angeklagten als sehr gutmütigen Menschen.

      Der Gerichtshof beschloß darauf, den Zeugen Nitter nicht zu vereidigen.

      Am siebenten Tage der Verhandlung nahm das Wort zur Schuldfrage Staatsanwalt Schütte: Meine Herren Geschworenen! Nach einer langen, anstrengenden Verhandlung stehen wir heute am Ende eines Prozesses, der in der weiten Welt Interesse erregt hat, da er ein Bild vom internationalen Verbrechertum entrollte. Dieser Prozeß hat schließlich zu einem Erfolge geführt, wie ihn niemand geahnt hat. Wir sehen auf der einen Seite einen jungen Mann aus guter Familie, der vollständig unter dem Einfluß eines schweren Verbrechers stand, auf der anderen Seite den Angeklagten, der mit seltener Ruhe und Kaltblütigkeit sich verteidigt. Er leugnete alles,

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