Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band. Hugo Friedländer

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Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band - Hugo Friedländer

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auf eindringliches Zureden eines Jugendfreundes entschloß sich Nitter, zumal er auch die Strafe des Meineids fürchtete, die volle Wahrheit zu sagen. Als dann der Angeklagte sah, daß ihn auch sein treuester Freund preisgegeben hatte, da bequemte er sich endlich am sechsten Tage der Verhandlung zu einem Zugeständnis, nicht zu einem Geständnis. Der Staatsanwalt schilderte alsdann in eingehender Weise den bekannten Vorgang vom 25. Oktober 1908. Der Angeklagte, so fuhr darauf der Staatsanwalt fort, wollte noch den Glauben hervorrufen, daß er ein gutmütiger Mensch sei. Er sagte, Nitter habe zunächst vorgeschlagen, in einen Zigarrenladen einzubrechen. Er habe aber gesagt: »Das will ich nicht, wir können doch nicht den armen Leuten die paar Pfennige wegnehmen.« Sie wollten hierauf in die Drogenhandlung von Musche einbrechen. Aber Herr Musche war zu Hause, da mußten sie davon Abstand nehmen. Alsdann kamen sie auf dem Breiten Weg an die Hirsch-Apotheke. Dort hing ein Plakat: »Von drei Uhr nachmittags ab geschlossen.« Der Angeklagte wollte aber, so versichert er, auch in die Apotheke nicht einbrechen. Nitter sagte jedoch: »Siehst du denn nicht, hier ist alles fort. Die Gelegenheit kann doch nicht günstiger sein. Du hast doch sonst Mut.« Diese Äußerung Nitters hätte ihn bewogen, in die Apotheke einzudringen. Ich komme nun noch einmal auf Nitter. Dieser junge Mann wollte Schauspieler werden, sein Vater wollte das aber nicht. Er kam deshalb zu Haasenstein & Vogler als Schreiberlehrling. Darauf wurde er Bureaugehilfe im Ostmarkenverein, alsdann Annoncen- und Abonnenten-Akquisiteur und schließlich Detektiv. Sehr bald wurde er mit dem Angeklagten bekannt. Sie haben gehört, Nitter war ein Prahlhans, dessen Zunge oftmals mit ihm durchging. Er zeigte ganz offen die Einbruchswerkzeuge. Er ist offenbar erst durch den unheimlichen Einfluß, den der Angeklagte auf ihn ausübte, zum Verbrecher geworden. Nitter sagte, ich sei schuld, daß er in Breslau unschuldig verurteilt wurde, weil ich ihn in der Verhandlung gegen ihn vor der Magdeburger Strafkammer einen durch und durch verdorbenen Menschen genannt habe, der schließlich für das Zuchthaus reif geworden sei. Ich bin aber der Ansicht, daß Nitter vielleicht noch einmal ein anständiger Mensch werden kann. Ich bemerke ausdrücklich, daß ich von Nitter stets diese Ansicht gehabt habe. Nitter gab sich sogar dazu her, den Kriminalkommissar Klinghammer auszuhorchen. Er erklärte sich bereit, dem Kriminalkommissar über das Treiben des Knitelius Auskunft zu geben. Er hatte, wie er sagte, aber nur die Absicht, den Kriminalkommissar, und zwar in ausdrücklichem Auftrag von Knitelius, auszuhorchen, um zu erfahren, was die Kriminalpolizei gegen Knitelius für Maßnahmen im Auge hatte. Daraus ging doch klar hervor, daß der Angeklagte alle Ursache hatte, die Polizei zu fürchten. Nitter sagte ja auch zu einigen Leuten, er fürchte die Rache von Knitelius. Wenn er die Wahrheit sage, dann würde Knitelius pfeifen und er noch einmal angeklagt werden, denn sie haben noch mehr auf dem Kerbholz. Aber auch der Angeklagte ist aus anständiger Familie. Er hat jedoch frühzeitig in Kreisen gefährlicher Verbrecher verkehrt und als sehr junger Mensch viel Umgang mit der besseren weiblichen Halbwelt gehabt. Er hat stets eine geladene Schußwaffe getragen und war dringend verdächtig, sich an schweren Einbrüchen beteiligt zu haben. Er hat auch in Berlin fast ausschließlich in Lokalen verkehrt, wo die gefährlichen Verbrecher zu verkehren pflegen. Er hat niemals gearbeitet, sondern augenscheinlich Reisen bis nach Zürich unternommen, um Einbrüche zu verüben. Äußerst charakteristisch ist es, daß, als der Kriminalkommissar Klinghammer im »Café Westminster« an Knitelius herantrat und ihm eröffnete, daß er ihn verhaften müsse, Knitelius keineswegs erschrak, sondern mit größter Ruhe sagte: »Herr Kommissar, ich wollte in den nächsten Tagen auf alle Fälle zu Ihnen aufs Präsidium kommen.« Das tut kein Mensch, dessen Leben fleckenlos ist. Der Angeklagte galt auch in Berliner Verbrecherkreisen als internationaler reisender Einbrecher. Charakteristisch ist auch, daß der Angeklagte mit seinem Komplicen Nitter in der belebtesten Straße Magdeburgs Sonntag nachmittags in eine Apotheke einbrach. Das ist das Charakteristische der Sonntagsdiebe, sie wählen sich die belebtesten Gegenden zur Ausführung ihrer Verbrechen, weil sie wissen, daß sie in solchen Gegenden am leichtesten unter der Menge verschwinden können. Der Angeklagte hatte sich auch in dieser Beziehung nicht verrechnet. Es ist jedenfalls ein Beweis von großer Umsicht, daß Herrn Kriminalkommissar Klinghammer schon vor langer Zeit das Treiben des Knitelius derartig verdächtig erschien, daß er es für nötig erachtete, Knitelius eines Abends im »Café Westminster« in Berlin zu verhaften, um ihn dem Erkennungsdienst zuzuführen. Der Umsicht Klinghammers ist es zu danken, daß nach Bekanntwerden des Mordes in Berlin sofort festgestellt werden konnte: Knitelius und kein anderer ist der Täter.

      Der Staatsanwalt erläuterte alsdann in eingehender Weise die Schuldfrage vom juristischen Standpunkt und gelangte zu dem Antrag, daß ein Mord vorliegt. Der Angeklagte ist zweifellos in die Hirsch-Apotheke eingedrungen, so fuhr der Staatsanwalt fort, in der Absicht, sobald sich ein Mensch ihm entgegenstellen sollte, ihn niederzuschießen. Danach liegt Mord im Sinne des § 211 des Strafgesetzbuchs vor. Ich will hierbei bemerken: In Magdeburg ist die Ansicht verbreitet, wenn der Angeklagte nicht des Mordes für schuldig erachtet wird, dann kann er nicht bestraft werden, da er nur wegen Verdachts des Mordes ausgeliefert worden ist. Das ist ein Irrtum. Nach den Bestimmungen des Auslieferungsvertrags mit Brasilien kann auch der Angeklagte mit einer geringeren Strafe bestraft werden. Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Dank der großen Bemühungen der Untersuchungsbehörde und der technischen Fortschritte auf dem Gebiete der Photographie ist es gelungen, zwei Jahre nach der Tat den »Gymnasialoberlehrer« in Rio de Janeiro festzunehmen und der gerechten Strafe zuzuführen. Die große Kaltblütigkeit und Ruhe, die der Angeklagte bis zum letzten Augenblick an den Tag gelegt hat, spricht zweifellos dafür, daß er auch die Tat mit Ruhe und Kaltblütigkeit begangen hat. Sorgen Sie durch Ihren Urteilsspruch dafür, meine Herren Geschworenen, daß die furchtbare Tat eine entsprechende Sühne erfährt. Milde hat der Angeklagte jedenfalls nicht verdient. Bejahen Sie die Schuldfrage wegen Mordes.

      Vert. R.-A. Dr. Boré: Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt bei, es ist ein schweres Verbrechen, das Ihrer Beurteilung unterliegt und eine entsprechende Strafe rechtfertigt. Ich könnte mich nicht einen Anwalt des Rechts nennen, wenn ich das in Abrede stellen wollte. Allein ein Todesurteil läßt sich weder vom juristischen noch vom menschlichen Standpunkt aus rechtfertigen. Daß der Angeklagte mit dem Vorsatz in die Hirsch-Apotheke eingedrungen ist, um einen Menschen zu töten, ist in keiner Weise erwiesen. Solange aber dieser Beweis nicht geführt ist, dürfen Sie die Schuldfrage wegen Mordes nicht bejahen. Es ist auch nicht erwiesen, daß der Angeklagte ein professionierter Einbrecher gewesen ist. Er ist jedenfalls einer solchen Tat wegen niemals auch nur angeklagt gewesen. Mit Vermutungen kann man doch nicht operieren. Der Angeklagte wußte, was ihm unter Umständen bevorsteht, er hat deshalb hartnäckig geleugnet. Das spricht aber noch nicht dafür, daß er die Absicht hatte, einen Menschen niederzuschießen. Die Tat ist ihm zweifellos vom Augenblick eingegeben worden. Der Umstand, daß er stets eine Schußwaffe bei sich trug, ist auch nichts Auffälliges. Der Angeklagte hat in Berlin in Cafés verkehrt, in denen jeder dritte Mann eine geladene Schußwaffe bei sich trägt. Ich habe nach den mehrfachen Unterredungen, die ich mit dem Angeklagten hatte, die Überzeugung erlangt, daß er noch ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden kann. Er bereut aufrichtig seine Tat. Ich bitte Sie deshalb, nur die Frage wegen Totschlags zu bejahen.

      Der Angeklagte versicherte nochmals, daß er nicht die Absicht hatte, den Apothekenbesitzer zu erschießen, er habe im Augenblick keinen anderen Ausweg gewußt und ohne jede Überlegung gehandelt. Er bereue aufrichtig seine Tat. Er habe auf dem langen Wege von Brasilien nach Magdeburg sich vorgenommen, zu leugnen und möglichste Ruhe und Kaltblütigkeit zu bewahren, da er wußte, daß er zum Tode verurteilt werden könnte. Er sei kein Jurist. Wenn er gewußt hätte, daß er nur wegen Totschlags verurteilt werden könnte, dann hätte er sofort ein offenes Geständnis abgelegt.

      Die Geschworenen bejahten die Schuldfrage wegen Totschlags und auch die Schuldfrage, ob der Angeklagte bei Begehung eines Verbrechens, um ein ihm entgegenstehendes Hindernis zu beseitigen bzw. sich der Ergreifung auf frischer Tat zu entziehen, vorsätzlich einen Menschen getötet hat.

      Staatsanwalt Schütte beantragte, mit Rücksicht auf die große Gemeingefährlichkeit des Verbrechens und auf die Frivolität, mit der der Angeklagte gehandelt habe, lebenslängliche Zuchthausstrafe und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.

      Der Verteidiger, R.-A. Dr. Boré, ersuchte, dem Angeklagten, der doch zweifellos

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